Wie weit sind wir bereit zu gehen, um den Dämonen unserer Vergangenheit zu entkommen? Die sechsteilige Miniserie “Hafen ohne Gnade” beleuchtet anhand der Familie Leprieur das raue Leben in der französischen Hafenstadt Le Havre und wie vergangene Verstrickungen über Generationen hinweg belasten können. Ich habe mit Drehbuchautor Maxime Crupaux und Schauspielerin Margot Bancilhon über den wendungsreichen Thriller gesprochen.
Der im Norden gelegene Handelshafen Le Havre ist der zweitgrößte Frankreichs. Mehrere Millionen Tonnen Güter werden hier jährlich verschifft und bieten mehr als 10.000 Menschen Arbeit. Dass der Arbeitsalltag nicht immer einfach ist, zeigt “Hafen ohne Gnade” auf eindringliche Weise. Der gutmütige Pierre Leprieur (gespielt von Olivier Dumont) ist einer dieser Arbeiter, der sich auch als Gewerkschafter für das Wohl der Belegschaft einsetzt. Dass der Hafen auch ein Ort illegaler Machenschaften ist, ist ihm ein Dorn im Auge. Als er Freunde und Familie zu seinem 60. Geburtstag einlädt, wird die Feier durch eine Hiobsbotschaft gestört. Sein eigener Sohn Jean (Pierre Lottin) liefert sich mit einem zwielichtigen Freund eine Verfolgungsjagd durch die Stadt, die mit einer Verhaftung wegen Drogenhandels endet. Ausgerechnet seine eigene Schwester soll ihn aus dem Schlamassel befreien. Emma (Margot Bancilhon) ist eine erfolgreiche Anwältin in Paris und Papas Liebling. Und dann ist da noch Bruder Simon (Panayotis Pascot), der für seinen Vater nur Verachtung übrig hat. Als Selbstständiger geht er seinen eigenen Weg, doch sein glamouröser Lebensstil deutet auf kriminelle Geschäfte hin. Als seinen Vater ein unerwartetes Schicksal ereilt, das hier nicht verraten werden soll, ist die Familie gezwungen, enger zusammenzurücken.
Der Serie gelingt es, Thrillerelemente mit einem erschütternden Familiendrama zu verbinden und das Ganze in kinoreife Bilder zu verpacken. Die warmen Farben stehen im Kontrast zu den tragischen Ereignissen und der abgründigen Vergangenheit, die immer mehr ans Licht kommt. Aber der Reihe nach: Autor Maxime Crupaux, der gemeinsam mit Baptiste Fillon das Drehbuch verfasst hat, erzählt für seriesly AWESOME alles ganz genau. „Als ich 2016 Le Havre besuchte, hatte ich das Gefühl, dass es etwas ganz Besonderes über diesen Ort zu sagen gibt, weil er an der Grenze zwischen zwei Welten liegt. Man fühlt sich sehr provinziell und gleichzeitig durch den riesigen Hafen mit dem Rest der Welt verbunden. Ich kontaktierte also Baptiste, einen Freund von mir, weil ich wusste, dass er aus Le Havre stammt. Während unserer Zusammenarbeit stellten wir fest, dass es interessant sein könnte, etwas über die Hafenarbeiter zu erzählen, denn sie sind diejenigen, die an vorderster Front der kriminellen Machenschaften stehen“, verrät Crupaux. Und tatsächlich ist es den Macher:innen gelungen, den Hafen nicht nur als imposanten Schauplatz zu präsentieren, sondern ihn vielmehr als eigenen Charakter in die Erzählung einzubinden. „Ja, das ist richtig.“ stimmt er mir zu. „Das liegt daran, dass wir mit der Stadt angefangen haben. Mein erster Gedanke galt diesem besonderen Ort, weil er nicht wie jede andere Stadt in Frankreich aussieht. Man hat wirklich das Gefühl, mit etwas Größerem verbunden zu sein. Außerdem versuchen wir, Figuren zu schaffen, die es dem Publikum ermöglichen, die Stadt zu erleben. Das ist auch der Grund, warum die Figur Pierre in der Gewerkschaft ist. Er ist ein Hafenarbeiter voller Leidenschaft für seinen Beruf. Deshalb haben wir uns auf eine Hafenarbeiterfamilie konzentriert, denn sie sind diejenigen, die gleichzeitig damit zu kämpfen haben, dass sie einen legalen Job haben, aber auch von Menschen- und Drogenhändlern ins Visier genommen werden können, um Container unbemerkt aus dem Hafen zu schmuggeln“.
Neben der Dramatik fesselt die Serie vor allem durch unerwartete Wendungen. Gerade wenn man glaubt zu wissen, wohin die Reise geht, nimmt die Handlung wieder eine ganz andere Richtung. „Wir wollten nicht nur eine Krimiserie machen. Wir haben uns von Anfang an auch mit dem Familiendrama beschäftigt. Die Handlung der Serie basiert auf dieser Dualität. Charaktere, die mit kriminellen Aktivitäten konfrontiert werden, obwohl sie nicht dafür verantwortlich sind. Am Anfang sieht man, dass es den Familienmitgliedern nicht gut geht, sie haben kein Vertrauensverhältnis zueinander. Sie haben den Kontakt für lange Zeit verloren, Simon kommt nur für ein Wochenende zurück, er scheint sich mehr um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ohne an seine Familie zu denken. Jean will eigentlich nicht mehr mit seinem Vater sprechen. Wenn man sich also durch die Handlung bewegt, springt man von einem Punkt zum anderen. Und der Drogenhandel ist eher ein Vehikel für das Familiendrama“.
„Ich hatte das Gefühl, dass es etwas über diesen Ort zu sagen gibt, was für mich etwas ganz Besonderes ist.“ – Maxime Crupaux (Drehbuchautor)
Erst ein tragisches Schicksal zwingt die Familie, ihre Einstellung zueinander zu ändern. Vater Pierre trägt eine schwere Last, die er auf keinen Fall an seine Kinder weitergeben will. Wird es der Familie gelingen, den Teufelskreis zu durchbrechen? „Die Stadt ist verflucht. Der einzige Weg, den Fluch zu brechen, ist, füreinander da zu sein“, sagt Crupaux.
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