Ein Mann in hellem Gewand und spitzer Kopfbedeckung stürmt in einen Raum voller Söldner, die beim Anblick des mit Pfeil und Bogen bewaffneten Angreifers schützend ihre Schilde erheben. Der geheimnisvolle Mann hält kurz inne und spannt seinen Bogen. Die Krieger weichen zurück. Was sich wie eine Szene aus einer Folge von „Arrow“ oder „Hawkeye“ liest, könnte auch aus Homers „Odyssee“ stammen, dem ältesten Werk der griechischen Literatur. Seit Menschen sich Geschichten erzählen, spielen darin auch Held:innen eine Rolle. Gerade in schwierigen Zeiten spenden sie Trost und Hoffnung. Kein Wunder also, dass nach den Anschlägen auf die Twin Towers im September 2001 solche Geschichten im Kino und später auch im Fernsehen immer beliebter wurden. Doch mehr als zwei Jahrzehnte später scheint die Welt genug zu haben von stumpfen Gut-gegen-Böse-Geschichten und Figuren in bunten Spandax-Kostümen. Von Publikumsmüdigkeit ist vielerorts die Rede. Doch was ist dran?
Superheldenverfilmungen sind kein Genre an sich, vielmehr werden hier viele Genres wie Krimi, Thriller oder Komödie eben mit Superwesen erzählt. Daher hinkt meiner Meinung nach der Vergleich mit dem Western in vielerlei Hinsicht. Dennoch lässt sich in der Tat ein nachlassendes Interesse an Filmen und Serien mit Superheld:innen feststellen. Filme wie „The Marvels“ und „The Flash“, aber auch die Marvel-Serie „Secret Invasion“ konnten in diesem Jahr kaum begeistern. Das mag nicht unbedingt daran liegen, dass die Zuschauer:innen keine Lust mehr auf Heldentaten haben, sondern vielmehr daran, dass sie nicht mehr die gleichen formelhaften Geschichten und Inhalte vorgesetzt bekommen wollen. Während die Studios versuchen, alte Erfolge von einst zu reproduzieren, sehnt sich das Publikum längst nach neuen, frischen Ideen. Inzwischen haben das auch die Verantwortlichen erkannt und wollen sich in Zukunft wieder auf wenige, ausgefeilte Geschichten konzentrieren. Während das „Hawkeye“-Spin-Off „Echo“ in wenigen Tagen an den Start geht, wurde bei „Daredevil: Born Again“ erst einmal zurückgerudert, um das Drehbuch komplett zu überarbeiten und den neuen Anforderungen anzupassen. Auch beim Konkurrenten DC stellt man sich neu auf und setzt auf eine Neuausrichtung. Mit dem Serienende von „The Flash“ und demnächst „Superman & Lois“ geht für Comicfans eine glorreiche DC-Serienära zu Ende. Nun sollen neue Formate wieder an glorreiche Zeiten anknüpfen. Bemerkenswert ist, dass beide Superheldenschmieden in Zukunft sowohl auf Real- als auch auf Zeichentrickserien setzen. Fans werden sicherlich weiterhin einschalten, wenn ihre Lieblingshelden die Welt retten, aber viele Gelegenheitszuschauer:innen könnten ausdünnen und vermutlich zur nächsten Serie wechseln.
Die Superheldensatire „The Boys“ zeigt, wie ein Superheldenthema erfolgreich umgesetzt werden kann. Die Serie spricht sowohl Comic-Fans als auch Menschen an, die sonst nichts mit dem Medium anfangen können. Grund dafür ist eine ausgeklügelte Story, die die Themen unserer Gesellschaft aufgreift, die die Menschheit aktuell bewegen, und diese dann mit Hilfe von Superheld:innen überspitzt darstellt. Der Serienableger „Gen V“ präsentiert neue Charaktere, mit denen die Zuschauer:innen von Anfang an mitfiebern können. Und mit der Zeichentrick-Anthologie-Serie „The Boys presents: Diabolical“ werden auch die Hardcore-Fans bedient. Erfolgsversprechend sind daher charakterorientierte Geschichten, die weniger auf Effekthascherei, sondern mehr auf Individuen und deren Entwicklung setzen, ohne Vorkenntnisse vorauszusetzen. Bei dem Veröffentlichungsrhythmus kann man schon mal den Überblick verlieren, was dazu führt, dass die Zuschauer:innen den Anschluss und letztlich die Lust verlieren. Damit es auch in hundert Jahren noch Geschichten mit Superman und Co. gibt, müssen sich auch die Inhalte immer wieder dem Zeitgeist anpassen und neu erfinden. Von einem Ende zu sprechen, ist daher etwas verfrüht.
Bilder: The CW | Disney | Prime Video
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