„Squid Game“ ist mit 111 Millionen Zuschauern in 27 Tagen die erfolgreichste Netflix-Serie, „Parasite“ holt als erster fremdsprachiger Film den „Oscar“, Apples erste fremdsprachige Original-Serie für Apple TV+ stammt mit „Dr. Brain“ aus Südkorea, BTS ist die erfolgreichste Popband der Welt – Südkoreas Kultur ist aktuell großer Exportschlager. Das kommt nicht von ungefähr: Die Finanzkrise Ende der 1990er Jahre stürzte das Land in eine Krise mit Massenarbeitslosigkeit und stagnierenden Exporten. Anders als heute, war das Land vor 25 Jahren noch eher abgeschottet vom Rest der Welt, demokratische Strukturen kaum vorhanden. Das weltweit eher stiefmütterlich betrachtete Land suchte nach einem Ausweg. Die Ressourcen in dem südostasiatischen Land sind begrenzt, die Menschen hingegen kreativ, gebildet, wandlungsfähig, wie es Fabian Kretschmer für Watson beschreibt.
Das analysierte Präsident Kim Dae-jung seinerzeit richtig – und stieß im Prinzip die wohl „größte nationale Image-Kampagne in der Weltgeschichte“ an, wie es Euny Hong in seinem Buch „The Birth of Korean Cool“ bezeichnet. Die Idee: Das Land öffnet sich der globalen Gemeinschaft, indem die Regierung gezielt den Kulturexport als wirtschaftliche Wachstumsbranche fördert – das Schlagwort „Nation Branding“ wurde geprägt. Sven Wiebeck beschreibt das hier in Cinema sehr gut. Das Prinzip: eine verstärkte Zirkulation und Popularität südkoreanischer Kulturprodukte, wie Musik, Filme und TV-Serien, außerhalb der eigenen Landesgrenzen, „Hallyu“ genannt, die „koreanische Welle“. Daniel Schottmüller beschreibt das ausführlich in der Rhein-Neckar-Zeitung.
Bis zur Finanzkrise bestand das TV-Programm in Südkorea zu 95 Prozent aus einheimischen Produktionen, danach waren es 16 Prozent. Über die Landesgrenzen hinaus schaffte es hingegen kaum eine Serie. Die Druck der kulturellen Globalisierung führte zum Umdenken: In Südkorea drehte man den Spieß um und investierte seinerseits in den Kulturexport – statt 5,5 Millionen Euro wie 1995 151 Millionen Euro 2007, wie Sabine Horst es bei epd-film.de aufführt und einen hervorragenden Überblick über K-Dramen liefert. Die Auswirkungen erkennen wir spätestens in diesen Tagen, mit den oben genannten Beispielen.
K-Pop, K-Drama, K-Serie – das ‚K‘ vor den Genrebegriffen deutet an, dass wir es hier mit Exportgütern aus der Republik Korea, wie es offiziell heißt, zu tun haben. Und die Erzeugnisse treffen den Nerv des Publikums. Vor zehn Jahren gab es kaum jemanden, der sich dem „Gangnam Style“ von Rapper Psy entziehen konnte. BTS steht vor einer Kooperation mit Coldplay, verkauft weltweit Millionen von Alben. „Squid Game“ hat schnell popkulturelles Potenzial entwickelt: Die Spiele werden – verharmlost – nachgespielt, es gibt Referenzen und Parodien in Shows, bei Sprachkurs-Anbietern boomen Koreanisch-Kurse – und Netflix freut sich mit. Denn bei aller Kritik, die Netflix in den letzten Monaten mit Blick auf das eher durchschnittliche Neustart-Programm zurecht einstecken musste, gelingt es dem Streamingdienst immer wieder, auf die richtigen Titel zu setzen, die nicht nur die Film- und Serienwelt betreffen, sondern auch gesellschaftlich Auswirkungen haben. Man denke nur an die Explosion von Schachkursen nach dem Start von „Das Damengambit“, oder die „Bird-Box-Challenge“, die im Internet vom Netflix-Film „Bird Box“ losgetreten und für viel Wirbel gesorgt hatte.
Das Korea-Produktionen Potenzial haben, hat Netflix – wieder einmal – früher entdeckt als viele andere. Derweil im linearen Fernsehen weiterhin Bollywood-Soaps vor sich hin dudeln, hat Netflix zeitig auf Grusel, Horror und Action aus Südkorea gesetzt – über 700 Millionen Dollar hat man bereits investiert, die Liste der mitunter sehenswerten Korea-Produktionen ist lang – wie wir hier aufgeführt haben.
Dass Südkoreas Kulturexport-Welle nicht bei jedem gut ankommt und mitunter politisch gegen die Republik Korea ausgenutzt wird, führt uns über die einzige Landesgrenze, die das südostasiatische Land hat – nach Nordkorea. Dort wird „Squid Game“ nämlich ganz einfach zu Propaganda-Zwecken eingesetzt – gegen das südkoreanische Land. „Squid Game“ zeige die „traurige Realität der scheußlichen südkoreanischen Gesellschaft, die Leute in extreme Rivalität treibt und sie ihrer Menschlichkeit beraubt“, wie es auf der nordkoreanischen Website „Arirang Meari“ heißt. Die Serie sei quasi der ultimative Beweis, wie grausam das Leben im kapitalistischen Südkorea sei. Auch in Nordkorea hat man „Squid Game“ offensichtlich also schon gesehen.
Die Geschichte Koreas war bis ins 19. Jahrhundert eng mit der Geschichte Chinas verbunden, und China ist auch heute noch der wichtigste/einzige politische Partner Nordkoreas. Betrachtet man Chinas Bestrebungen, wieder zur asiatischen Hegemonialmacht aufzusteigen, und wenn man sich bewusst macht, dass schon jetzt kein asiatisches Land mehr alleine dazu in der Lage wäre sich gegen Chinas militärischer Übermacht zu verteidigen, dürfte der Versuch das eigene „Image“ international aufzubessern, vermutlich auch ein sicherheitspolitischen und nicht nur ökonomischen Aspekt haben. Nach dem Motto: „Je mehr Menschen uns mögen, um so lauter klingt der weltweite Aufschrei, wenn China (vermittels Nordkorea) anfängt auf uns ähnlichen Druck auszuüben, wie auf Hongkong oder Taiwan.“
Spannender Denkansatz, das könnte/dürfte tatsächlich da mit hineinspielen. Muss ich mal recherchieren, ob’s dazu etwas gibt.
Dass Taiwan (ebenfalls) sein „Image“ gegen China als Waffe einsetzt, wird auf jeden Fall in diesem Podcast dargestellt:
https://www.ardaudiothek.de/episode/weltspiegel-thema/taiwans-waffe-gegen-china-sein-image/swr/94198602/
Auch wenn Taiwan und Südkorea nur bedingt miteinander vergleichbar sind, weil in Südkorea knapp 30.000 US-Soldaten stationiert sind, und in Taiwan kein einziger, und weil ein Konflikt auf der koreanischen Halbinsel (wegen Nordkoreas Atombomben) schneller in einen Atomkrieg münden könnte als irgendeiner Partei lieb sein kann, halte ich es dennoch für gut möglich, dass es keine exklusiv taiwanesische, politische Strategie ist, das eigene „positive Image in der Welt“ als Waffe gegen ein aggressiv auftretendes China einzusetzen.
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