Sonntag, 18.50 Uhr, ARD: Folge 1543 der Lindenstraße startet. Eigentlich nichts besonderes, vordergründig zumindest. Die Veränderung spielt sich mehr im Hintergrund ab: Es ist Autorenwechsel in der Lindenstraße, Folge 1543 und die nächsten acht Episoden werden aus der Feder von Autor Michael Meisheit kommen. Er ist einer von aktuell vier Storyline-Autoren des Dauerbrenners im Ersten, seit 1997 dabei, seit einigen Jahren Chefautor. Wie hält man die Spannung in einer Serie hoch, die jeden Sonntag, Woche für Woche, läuft? Welche Themen sind interessant, welche Figuren sollen eine Rolle spielen? Wir von sAWE.tv haben uns mit Michael Meisheit im Molinari in Berlin zum Frühstück getroffen, um ausführlich über das Phänomen Lindenstraße zu sprechen – und über Serien allgemein natürlich.
Dass Michael Meisheit, Jahrgang 1972, viele Antworten auf unsere Lindenstraße-Fragen haben würde, dessen waren wir uns sicher. Immerhin schreibt er seit 18 Jahren an der Dramaturgie dieses Serienphänomens mit – bei bislang über 300 Folgen. Er hat Handlungsstränge entwickelt und verknüpft, Figuren zum Leben erweckt und sterben lassen, Bösewichte wie Symphatieträger. Zwischen den Autoren und den Serienfiguren existiert eine besondere Beziehung: „Als Autoren wollen wir die Figuren immer verstehen“, sagt Michael Meisheit. Man ahne früh, wie sich die Figuren entwickeln werden. Ahnen ist gut: Immerhin sind die Drehbuch-Autoren der aktuell im TV laufenden Handlung schon meilenweit voraus. „Wir arbeiten mit einem extrem langen Vorlauf – wir sind gedanklich schon ein Jahr weiter“, sagt der in Berlin lebende Autor.
Treffen der Storyline-Autoren: Lindenstraße ein Jahr im Voraus planen
Damit sie einerseits den Überblick behalten, andererseits aber auch die Lindenstraße an sich nach vorne bringen können, treffen sich die Storyline-Autoren vier Mal im Jahr. Das sind neben Michael Meisheit aktuell Ruth Rehmet, Catrin Lüth und Irene Fischer, die gleichzeitig auch als Schauspielerin in der Serie zu sehen ist – sie spielt Anna Ziegler. „Die Treffen arten dann zu richtig intensiven Phasen aus, wir schließen uns im Prinzip tagelang ein“, sagt der Chefautor. Eine gute Woche nehmen sich die Autoren am Stück Zeit: Hier wird die Grundstruktur der Handlung besprochen und festgelegt.
Zum Hintergrund: Die vier Autoren wechseln sich mit dem Schreiben der Drehbücher ab. Jeder Autor ist für etwa sechs bis neun Folgen am Stück verantwortlich, ehe an den nächsten übergeben wird. In den Storyline-Sitzungen werden diese Übergaben besprochen und so mögliche Fehler in den Erzählungen vermieden. „Wir arbeiten bei den Treffen die Storylines aus und entwickeln einige Ansätze, die zu Szenen werden können.“ Auch der für die Lindenstraße so typische Cliffhanger wird hier schon Folge für Folge festgelegt. Pro Episode werden im Prinzip drei Geschichten erzählt. Die Struktur und Verknüpfung legt der verantwortliche Autor fest. Bei der Entwicklung von Schwerpunkten wird außerdem darauf geachtet, welcher Autor bei welchem Thema seine Stärken hat. „Jeder Autor ist aber für seine Geschichten nachher selbst verantwortlich“, sagt Michael Meisheit. Das betrifft auch die Vorrecherche zu verschiedenen Themen, die in der Lindenstraße besetzt werden sollen. So ist der zweifache Vater schon zu Recherchezwecken bei der Polizeistreife mitgefahren, oder hat in der Charité recherchiert, als das Thema EHEC-Virus das Leben – und Sterben – in der Lindenstraße bestimmt hat.
Überhaupt ist das Aufspüren aktueller Themen eine große Herausforderung für die Autoren: Sie müssen nicht nur überlegen, welches Thema in einem Jahr – wenn die Folgen dann ausgestrahlt werden – eine Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion spielen könnte, sondern sie müssen in gewisser Weise auch Reizpunkte setzen, die einen Austausch bei den Zuschauern anstoßen können. Das hat die Lindenstraße seit ihrer Erstausstrahlung 1985 immer gekonnt beherrscht. Die Autoren sind mit vielen Themen angeeckt, haben aber nicht selten eine breite öffentliche Diskussion brisanter oder gesellschaftsrelevanter Themen initiiert. Das ist bis heute so geblieben. Um ganz aktuell zu bleiben, haben die Autoren auch immer die Möglichkeit, aktuelle Aspekte nachträglich einzuschieben. „Das hängt natürlich immer von gewissen Faktoren wie Verfügbarkeit von Schauspielern oder den Drehplänen ab, aber grundsätzlich können wir noch bis kurz vor der Ausstrahlung reagieren und neue Szenen in die Folge schneiden“, sagt Michael Meisheit. Im Frühjahr hatte der Autor mit dem geplanten Moscheebau in der Lindenstraße ein glückliches Händchen bewiesen und trotz des Vorlaufs den Nerv der Zeit getroffen – die Folgen liefern zu Zeiten des Anschlags auf die Charlie Hebdo-Redaktion.
Kleinere Aktualisierungen tragen die Autoren und Dramaturgen über verschiedene Hilfsmittel in die Folgen. Das können die Radionachrichten sein, die aus dem Off zu hören sind, oder die Nachrichtensendung im TV, der gerade bei einem der Mieter in der Lindenstraße läuft. Da die Lindenstraße immer noch eine große Fangemeinde hinter sich hat, kommt es auch vor, dass sich Interessenverbände bei den Autoren und Produzenten melden, um das eine oder andere Thema zu platzieren. Davon lassen sich die Autoren allerdings selten beeinflussen. Stattdessen lesen sie viel und halten die Augen offen: „Es tauchen im täglichen Leben immer wieder einmal Aspekte auf, bei denen man überlegt, wie man daraus eine Geschichte machen kann“, sagte Michael Meisheit. Auch solche Impulse fließen in die Autoren-Treffen mit ein. „Wir diskutieren dann jene Geschichten, in die wir viel hineinentwickeln können“, sagt der Autor. Während der Sitzung entstünden dann weitere Ideen; auch, welche Figuren zum angedachten Thema passen. Dabei geraten immer mehrere Figuren in den Fokus: „Das Lindenstraße-Universum ist zu komplex, als dass man als Autor nur eine Figur entwickelt.“ Allerdings plane man schon auch größere Geschichten für bestimmte Figuren, damit sich die Schauspieler in ihren Rollen entwickeln können. „Kinder sind hier natürlich immer eine Herausforderung“, erklärt der erfahrene Autor. Gerade an ihnen könne man vielfach gut erkennen, wie sich sich mit der Arbeit an ihren Figuren entwickelten – als Schauspieler und als Menschen. Lässt sich eine vorgegebene Handlung nicht umsetzen, sind die Autoren mitunter auch schon einmal kurzfristig gefragt. Dann erhalten sie einen Anruf der Dramaturgen, die um Unterstützung bitten. „Der Autor ist natürlich der Herrscher über die Folge“, sagt Michael Meisheit leicht schmunzelnd, aber bestimmt. Vor Ort kann sich an den Drehbüchern vielleicht nochmal eine Kleinigkeit ändern, auch beim Schnitt, grundsätzlich bleibt es aber bei den Vorgaben der Autoren.
Für Michael Meisheit ist das Schreiben an den Lindenstraße-Drehbüchern eine prozessartige Entwicklung. „Man muss viel bedenken: Produktionsfaktoren spielen eine Rolle, die Verfügbarkeit der Schauspieler und damit auch der Figuren, und dazu haben wir immer noch die Realität im Blick. Und: Alles, was wir schreiben, muss als Handlung später an einem Donnerstag stattfinden.“ Die Lindenstraße läuft zwar jeden Sonntag im TV, die gezeigte Handlung findet allerdings immer an einem Donnerstag statt. „Das schränkt uns Autoren natürlich auch ein. Wir können nicht eine Figur mit einem ungelösten Problem ins Bett schicken und am nächsten Morgen aufwachen lassen. In der nächsten Folge sind wir schon wieder eine Woche weiter“, sagt Michael Meisheit.
Seit 1997 ist Michael Meisheit wie gesagt beim Lindenstraße-Autorenteam dabei – nicht nur eine lange Zeit, sondern auch verbunden mit einem frühen Einstieg ins Schreiben. Schließlich war Michael Meisheit damals mit 24 Jahren ziemlich jung, steckte noch im Studium. Wie entstand die Verbindung zum Lindenstraße-Kosmos?
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