Ich habe mich die ganze Woche darauf vorbereitet, ein Fernsehereignis zu kommentieren, das komplett aus der Zeit gefallen ist. Etwas, das an Rückwärtsgewandtheit und Stumpfheit kaum zu überbieten ist – eine Aneinanderreihung von Fettnäpfchen und Witzen, die maximal der Boomer-Generation ein Grinsen entlocken können, sowie musikalische Beiträge, bei denen einem die Ohren bluten und man sich am Ende fragt: Warum tue ich mir das an? Ich spreche vom deutschen ESC-Vorentscheid, der in diesem Jahr vom NDR, RTL und Stefan Raab ausgerichtet wird. Gestern war es dann so weit: Die erste Hälfte der Teilnehmer:innen bekam die große Bühne und konnte sich für das Vorentscheid-Halbfinale qualifizieren.
Der Beginn schien meine Befürchtungen zu bestätigen. Wobei ich zugeben muss, dass ich mich insgeheim auch auf eine schlechte Show gefreut habe. Warum ich mit diesem negativen Gefühl an die Sache herangegangen bin? Zunächst hat mich der Raab-Boxkampf schwer geschädigt – wer den gesehen hat, weiß, dass manches seine Zeit hatte und besser nicht zurückkommt. Und dann wären da noch die Erfahrungen der letzten Vorentscheide. Man erinnere sich an das letzte Jahr, als eine Teilnehmerin ihren Text vergaß – das war die Qualität des deutschen Vorentscheids. Dazu setzte der NDR eine Jury von der Kategorie Mini-Playback-Show, die einfach alles super fand, was die Zuschauer zusätzlich verwirrte, denn offensichtlich war es das nicht.
Wenn nun ein aus der Zeit gefallener Raab und ein unbelehrbarer NDR aufeinandertreffen, kann man eigentlich nicht viel erwarten.
Und wie gesagt, der Beginn deutete tatsächlich auf ein erneutes Desaster hin. Max Mutzke sang alle Stefan-Raab-Beiträge zum ESC der letzten (gefühlten) 100 Jahre in einem Medley. Ungewohnt schwach war Max bei der Sache: Er traf nicht die hohen Töne seines eigenen Liedes und wirkte generell nicht so, als hätte er seine Performance-Temperatur erreicht.
Dazu sei erwähnt, dass die Show „Chefsache“ heißt – und das wurde durch die Raab-Huldigung am Anfang deutlich unterstrichen: Der Chef ist Raab, und es wird gemacht, was er sagt.
In der Jury sitzen Stefan Raab, Yvonne Catterfeld, Max Mutzke und Elton. Bis auf Yvonne also nur der alte Raab-Partei-Kader.
Aber, was soll ich sagen, danach ging es nach und nach bergauf. Das lag aber nicht an Raab, sondern einzig und allein an den erfrischenden und teilweise wirklich sehr guten Musikbeiträgen. Dieses Mal wurde im Vorfeld aufgerufen, sich zu bewerben, und diesem Aufruf folgten viele Bands und Sänger:innen.
Die Präsentation der Acts erinnerte an DSDS. Gleich die erste Kandidatin „Julika“ zeigte ihr Katzenshirt und „beichtete“, dass sie gerne Horrorfilme schaut; dann durfte ihr Freund noch drei Sätze sagen. Das Ganze erinnerte fast an Schwiegertochter gesucht. Doch – Überraschung – „Julika“ hatte eine Stimme und überzeugte trotz der seltsamen Homestory.
Im weiteren Verlauf gab es weitere positive Überraschungen. Die meisten der Teilnehmer:innen konnten auf einen gewissen Ruhm verweisen, wie hunderttausende Follower oder Auftritte auf Festivals.Vielleicht auch ein Grund für die hohe Qualität.
Der skurrilste Moment war, als eine Mittelalterband namens „Feuerschwanz“ auftrat, aber auch das passte in die Show: Die Band hat schon viele Jahre Bühnenerfahrung und machte einen grundsympathischen Eindruck. Dass sie „Dragostea Din Tei“ sangen – sicher nicht für jeden etwas – passte aber zum ESC, der ja von verschiedenen Genres und Geschmäckern lebt.
Einzig der Electro-Beitrag von „Enny-Mae x Paradigm“ fiel in der Qualität deutlich ab. Mit „Cage“ aus Köln, die quasi eine weibliche Version von Max Mutzke war und besser sang als er zu seiner besten Zeit, oder der ebenfalls starke „Benjamin Braatz“ war das aber nicht schlimm, denn insgesamt wurde wirklich viel geboten.
Das Nervigste war eigentlich nur, dass Raab viel zu viel kommentierte, sich ständig wiederholte und seine Jurykolleg:innen kaum zu Wort kommen ließ. Yvonne Catterfeld durfte gefühlt nur zwei Sätze innerhalb der fast dreistündigen Sendung von sich geben.
Selbst wenn Barbara Schöneberger versuchte, von Raab abzulenken und z. B. Elton das Wort erteilte, fiel Raab seinem ehemaligen Showpraktikanten ins Wort, weil ihm noch etwas „ganz Wichtiges“ eingefallen war.
Aber weder die Jury, noch Raab, noch Barbara Schöneberger (entweder man mag sie, oder eben nicht, aber sie bleibt sich treu) schafften es, den positiven Eindruck der Teilnehmer:innen zu überschatten. Eigentlich waren Raabs Monologe sogar ganz praktisch, weil man sich dann zu Hause auf der Couch über die Auftritte austauschen konnte, ohne etwas zu verpassen.
Das Teilnehmerfeld hatte deutlich mehr Potenzial als bei den letzten NDR-Vorentscheiden. Wenn man bedenkt, dass der NDR einmal ohne Auswahl ein Duo namens „Sisters“ zum ESC schickte, das höchstens mit „Enny-Mae x Paradigm“ um den letzten Platz hätte kämpfen können, sagt das schon einiges aus.
Auch die Dramaturgie des Vorentscheids fand ich gelungen. Zuerst nur die Künstler:innen auszuwählen (gestern und heute) und erst im Halbfinale die ESC-Songs zu präsentieren, bietet auch für die Zuschauer:innen mehr Spannung.
Als das Ende nahte, hatte ich schon befürchtet, ein ewiges Martyrium der Auswahl der Halbfinal-Kandidat:innen zu erleben. Aber nein, es ging kurz und schmerzlos. Ob da der NDR interveniert hat? So etwas kennt man vom Privatfernsehen gar nicht.
Damit blieb das Gefühl einer – trotz fast dreistündiger Show – kurzweiligen und unterhaltsamen Sendung, die Lust auf mehr macht.
Fazit
Was soll ich sagen, ich wollte lästern, aber die Qualität der Beiträge stimmt mich positiv. Man konnte gemeinsam begeistert sein, man konnte über Genres streiten und darüber, was wohl den Geschmack Europas treffen könnte, und einmal durfte man sich sogar über stimmliche Ausrutscher amüsieren – alles war dabei.
Raab hätte es dafür definitiv nicht gebraucht, aber den nehme ich in Kauf, wenn mich die Musik unterhält.
Bilder: RTL / Willi Weber
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