Ich weiß auch nicht, weshalb, aber irgendwie hatte ich im Vorweihnachtsstress „Alice in Borderland“ ganz aus den Augen verloren. Nach Teaser und Trailer hatte mir das japanische Netflix Original eigentlich sehr zugesagt. Entsprechend euphorisch habe ich die Programmkachel dann auch erinnernd wiederentdeckt, als es am 23. Dezember darum ging, was ich denn nun gemeinsam mit meinen Eltern gucken könnte. Ob die beiden nach Folge Eins weiter geschaut haben, ist mir unbekannt. Ich habe die Zugrückfahrt jedenfalls genutzt, um weiter zu schauen. Denn die Manga-Verfilmung hat einiges zu bieten. Jetzt bin ich mit der acht jeweils zumeist eine Dreiviertelstunde laufenden Episoden umfassenden ersten Staffel der am 10. Dezember veröffentlichten Serie durch und möchte euch ein spoilerarmes Bild davon zeichnen.
Das ist „Alice in Borderland“
Die Serie basiert auf der Survival- und Thriller-Graphic-Novel „Imawa no Kuni no Alice“ (Partnerlink) von Haro Aso, die zwischen 2010 und 2016 mit insgesamt 18 Bänden veröffentlicht worden ist. Zentrum der Geschichte ist die japanische Metropole Tokio, die von jetzt auf gleich menschenleer ist. Und dann beginnt für die Zurückgebliebenen ein seltsames Spiel…
„Arisu, ein planloser und arbeitsloser junger Videospiel-Freak, findet sich plötzlich in einer seltsamen, menschenleeren Version von Tokio wieder, in der er und seine Freunde sich in gefährlichen Spielen messen müssen, um zu überleben. In dieser seltsamen Welt trifft Arisu auf Usagi, eine junge Frau, die allein durch die Spiele navigiert. Gemeinsam machen sie sich auf, ein Geheimnis nach dem anderen zu lüften, wobei sie ihr Leben riskieren und sich der Frage stellen, was es bedeutet, zu leben.“
Spielen wir ein Spiel…
Meine erste Intuition beim Anblick der Vorab-Trailer sollte mich nicht im Stich lassen. Tatsächlich weiß vor allem die Pilotfolge von „Alice in Borderland“ eine Mixtur an Gefühlen zu entfachen. Das Irritierte Umherstreunen der Figuren im plötzlich menschenleeren Tokio erinnert an die Fußstapfen Cillian Murphys im Film „28 Days Later“ und die perfiden Todesspiele an „Cube“. Ja, man könnte auch ein modernes „SAW“ darin sehen, für mich ist das aber gerade im ersten Türen-Spiel schon alleine aufgrund der Raum-Mechanik näher am 97er Streifen von Vincenzo Natali.
Vor allem zu Beginn sind die Spiele die eigentlichen Stars der Serie. Mir gefällt dabei vor allem, wie abwechslungsreich diese gestaltet sind. Bei jedem Spiel geht es um eine Spielkarte. Deren Farbe (also Kreuz, Pik, Herz oder Karo) entscheidet über die Grundart der Herausforderung, also ob es zum Beispiel physisch her geht oder man vor allem clever sein muss. Der Zahlenwert soll den Schwierigkeitsgrad besagen. Diese Einteilung finde ich super, wird aber direkt in der ersten Folge ad absurdum geführt. Dort geht es reichlich brenzlig zur Sache und nur ein ziemlich smarter Gedankengang kann Abhilfe schaffen – die Überlebenschancen scheinen kaum vorhanden und doch handelt es sich lediglich um eine Dreier-Karte. Das passt nicht ganz.
Auch hat mich bereits in der Folge etwas gestört, dass alles immer haarscharf zugeht. Countdowns laufen bis zur letzten Sekunde, in Flammen aufgehende Räume werden gerade noch so geschlossen, und so weiter. Da hätte etwas Abwechslung gut getan. Wobei man auch sagen muss, dass deutlich mehr Personen drauf gehen, als die üblichen „Red Shirts“, was wiederum teilweise erfreulich überraschend ist.
Interessante Charaktere
Punkten kann „Alice in Borderland“ aber auch mit seinen Charakteren. Man merkt, dass eine Graphic Novel im Hintergrund als Vorlage gedient hat. Die Figuren sind größtenteils charakterstark gezeichnet. Das kann zuweilen eindimensional wirken, wird aber zumindest bei den Hauptfiguren durch erweiterte Erzählungen aufgefangen. Dabei haben mir vor allem die Rückblicken gefallen, die gegen Ende der Staffel zu einzelnen Charakteren eingeworfen wurden, um aufzuzeigen, wie deren altes Leben VORHER ausgesehen hat.
Damit Figuren auch von Leben erfüllt werden, müssen der Cast funktionieren. Und auch wenn ich den Großteil auf Deutsch gesehen und ansonsten lediglich den Untertiteln folgen konnte (die übrigens inhaltsgleich und doch komplett anders als die Synchronisations-Zeilen sind…), fand ich die Darbietung der Schauspieler*innen durchaus gelungen. Ob Kento Yamazaki als Hauptfigur Ryohei Arisu, Tao Tsuchiya als die sportliche Yuzuha Usagi oder Dôri Sakurada als der durchgeknallte Niragi – da war viel Schönes dabei. Und nein, es heißt (soweit ich weiß bislang) noch niemand in der Serie „Alice“ „Arisu“ ist quasi das japanische Pendant zu „Alice“ – und einen Hutmacher gibt es auch noch. Dass der tatsächlich Hüte verkauft hat und durch die Reise im neuen Spiel-Land verrückt geworden ist, empfand ich als nette Referenz zur Titel-Vorlage „Alice im Wunderland“.
Die Darbietung ist aber auch anders, als wir es oftmals gewohnt sind. Diese fernöstliche Darstellungsweise ist aber auch das, was den Reiz an „Alice in Borderland“ zumindest für mich persönlich zu Teilen ausgemacht hat. So viele (Realfilm-)Serien aus Japan habe ich noch nicht geschaut. Da fühlen sich Pausen schon einmal etwas länger an und einige Close-up-Einstellungen kennt man in der Form sonst nur bei Anime-Serien, in denen dynamische Kämpfe oder Fußballspiele ausgetragen werden. An dieser Stelle bitte einfach gefletschte Zähne und eine Wut-Vene an der Stirn vorstellen. Und vielleicht hätte die ein oder andere Blutwolke bei Schusswunden etwas kleiner ausfallen können.
Der digitale Kaninchenbau
Für mein Empfinden hätte es zu Beginn gerne länger diese gelebte Leere geben dürfen. Diese Einsamkeit. Die Suche nach anderen Menschen und vor allem Erklärungen. Heutzutage muss man in Episode Eins bereits Konkretes bieten, ich weiß. Aber mir hätte es gereicht, wenn da dann zum Beispiel erst der Aufruf zum Spiel gekommen wäre. Oder der erste Menschenkontakt. Allgemein hätte man das alles auch auf mehr Folgen verteilen können, wobei da natürlich immer fraglich ist, ob man die Qualität aufrecht erhalten kann. Auch hat die Dynamik der Serie zur Hälfte der Staffel einen Shift erhalten. Nicht nur waren die Spiele mittlerweile genauso Usus, wie hier und da mal wieder einen anderen Menschen zu sehen – auf einmal gibt es ganz viele von ihnen. In Badeklamotten. Gut, das Bild hatte schon was für sich, dass aber erst überall nach diesem geheimen Ort gesucht wird und dann dort so ziemlich jeder noch lebende Mensch zu sein scheint, wirkte unpassend. Genau wie beim großen Spiel gen Ende, wo von 58 Leuten die Rede ist, die im Gebäude sein sollen. Entsprechend liegen auch 58 Telefone aus. Alleine in der Gruppensequenz sind viel, viel mehr Leute zu sehen und nach etlichen Toden sind selbst am Ende vermutlich noch 58 Personen zugegen. Derart plumpe Fehler sind einfach nur unnötig.
Ansonsten hat mir das aber gut gefallen. Die Folgen haben auch durch diesen Perspektiv-Wechsel stets Abwechslung für den Zuschauer im Angebot. Dazu gibt es auch Momente, in denen es um Menschlichkeit, Solidarität, Freundschaft und Priorisierungen im Leben und des Lebens geht. Die Spiele bringen Würze rein, auch wenn sie leider über die Dauer ordentlich an Stellenwert verlieren. Stets wird aber mit den Gedanken der Zuschauer gespielt. Wer ist gut, wer ist böse? Wer führt was im Schilde? Und wer steckt vielleicht hinter der ganzen Geschichte?
Wollt ihr meine Theorie dazu hören? Hier (bewusst nicht als Spoiler markiert, da ich ja nicht weiß, ob es wirklich so ist): Ich glaube, dass die ganze Geschichte nur eine Simulation ist. Etwas zu offensichtlich und konkret wurde von der ersten anderen Person, die unser Trio nach dem Event in Tokio zu sehen bekommt, erwähnt, dass ihre Firma eine 1:1-Kopie der Wirklichkeit als VR-Event hochgezogen hätte. Das würde auch dazu passen, dass Leute zu unterschiedlichen Momenten in das Spiel gezogen worden sind. Kurz dachte ich, dass alle mit einem „Spint-Chip“ am Arm echte Spieler von der Außenwelt wären und unsere Figuren vielleicht gar komplett künstlich sind, aber ein Bewusstsein entwickelt haben. Das glaube ich nicht mehr. Vielleicht sind sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus der realen in die virtuelle Welt verfrachtet worden. Und Tode sind gar keine richtigen Tode. Alles nur ein Spiel mit den Spielen. Und Arisus Freunde leben in Wirklichkeit noch – in der Wirklichkeit. Okay, das Ende mag ein wenig dagegen sprechen, immerhin ist der Twist da im Kommandozentrum doch ein paar Ebenen tiefer, als man es vermutet haben könnte. Aber das Spiel will eben als solches gesehen werden und ist entsprechend komplex. Könnte jedenfalls passen, wie ich finde. Und dass Mira da irgendwie mit drin steckt, hat mich nicht wirklich verwundert. Bei dem Hexen-Spiel hatte ich mich bereits gefragt, wo die denn nur abgeblieben ist…
Das war verdammt originelles Fernsehen und ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt! Aus dem Stand könnte ich direkt nochmal acht Folgen weiter schauen. Die Cinematography war größtenteils super, die Effekte zumindest gut und die Story zieht einen genauso in ihren mystischen Bann, wie einige der starken Charaktere. Ja, ein paar kleinere Längen sind dabei, genau wie ein paar Unlogiken, aber da kann man gut drüber hinweg sehen (vielleicht auch aufgrund des abgefahrenen Settings). Ich gestehe, ein Opfer für eine Mischung zu sein, wie wir sie hier zu sehen bekommen: Zu lösende Rätsel, moderne Sci-Fi-Settings, intensive Dramatik durch die gegebenen Konsequenzen und diese gewisse kulturelle Exotik. Vieles erinnert mich auch an „Black Mirror“, auch wenn dazu der auflösende Twist fehlt. Bislang zumindest! Denn ich freue mich bereits darauf, dass die Karten auf den Tisch gelegt werden. Erst die gigantischen Bilder-Karten von den Zeppelinen, dann im übertragenen Sinne, was die Hintergrundgeschichte anbelangt.
2. Staffel von „Alice in Borderland“?
Noch hat Netflix keine offizielle Meldung zu einer möglichen zweiten Staffel von „Alice in Borderland“ gegeben, es darf aber davon auszugehen sein, dass es weiter geht. Dazu sind die Kritiken zu positiv und allem voran verspricht nicht nur das Ende der achten Episode der Serien-Adaption vollmundig ein „neues Level“, auch die Manga-Vorlage bietet noch weiteren Stoff, den es zu erzählen gilt. Ich bin mir also sicher, dass wir Ende nächsten oder Anfang übernächsten Jahres neues Futter bekommen werden. Mögen die Spiele weiter gehen!
UPDATE: Ach, schau an, die zweite Staffel wurde zu Weihnachten doch bereits angekündigt – hier der Teaser!
„Season 2 in the works!“
Bilder: Netflix | © Haro Aso,Shogakukan / ROBOT
Die Serie ist nach der Hauptfigur Arisu benannt.
Arisu ist der Japanische Name für Alice :-)
Ach, schau an – wieder was gelernt. Danke für die Info! :)
Ich weiß nicht wie der Verfasser auf 58 Teilnehmer kommt die am letzten Spiel teilnehmen. Auf dem Tisch sind 224 Handys zu sehen.
Hallo Stephan, hier „der Verfasser“ – in der deutschen Synchro wird zu Beginn des Spieles (also Ende Folge 6) gesagt, dass sich 58 Spieler vor Ort befinden. Vielleicht auch einfach nur ein Fehler der Synchronisations-Firma, keine Ahnung. Habe es aber gerade extra nochmal nachgehört.
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