Das muss man Apple ja lassen: Den hohen Anspruch an Qualität von Filmen und Serien, den das Unternehmen zum Start des eigenen Streamingdienstes Apple TV+ formuliert hatte, hält das Unternehmen nach wie vor hoch. Es gab ein, zwei Aussetzer bisher, aber das würde ich eher auf meine persönliche Geschmacksfrage als auf die Qualität schieben. Jetzt steht das nächste Werk an: „Aus Mangel an Beweisen“, die Serienumsetzung des Justiz-Romans „Presumed Innocent“ von Scott Turow aus dem Jahre 1987. Der wurde 1990 bereits recht überzeugend als Film umgesetzt, seinerzeit mit Harrison Ford in der Hauptrolle. Aber wir leben heute im Serien-Zeitalter, also bekommen wir die Story um Staatsanwalt Rusty Sabich erstmals in acht einstündigen Häppchen serviert. Wirkt die Story dadurch langatmig oder künstlich in die Länge gezogen? Ganz und gar nicht – sie profitiert meiner Meinung nach sogar von dem Serienformat, weil so nochmal detaillierter auf die Charaktere, Nebenschauplätze und die rechtlichen Details des Falls eingegangen wird – und mit starken Cliffhangern am Ender Episoden gearbeitet werden kann. Dass das gelingt, dafür bürgt natürlich der Name David. E. Kelley, der den Roman für die Serie adaptiert und zusammen mit JJ Abrams für Apple produziert hat.
David E. Kelley also, der sich ja gerade mit Anwalts- und Gerichtsserien einen Namen gemacht hat. Stilprägend mit „Ally McBeal“ und „Boston Legal“, später überzeugend mit „Goliath“ und „The Undoing“, dazu sehr melodramatisch mit „Big Little Lies“, hier ein wenig von der rechtlichen Schiene abschweifend und mehr in Richtung Familiendrama orientiert. Aus dieser Ecke kommt Kelley auch bei „Aus Mangel an Beweisen“, kommt dann aber sehr schnell und konzentriert auf den eigentlichen Fall und – noch besser – auf die Verhandlung dessen. Was mir bei „Big Little Lies“ ein bisschen zu kurz kam, lebt Kelley hier in vollen Zügen aus – und brilliert für meinen Geschmack endlich wieder als Erzähler eines spektakulären, verwinkelten, intensiven Falls vor Gericht.
David E. Kelley zieht bei „Aus Mangel an Beweisen“ alle Register: Er taucht tief ein in die Welt der amerikanischen Justiz, nimmt uns mit ins Richterzimmer, in das spärlich ausgestattete Besprechungszimmer der Verteidigung, in die belebten Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft. Wir sind immer hautnah dabei, sowohl auf der Seite des Angeklagten als auch auf der Seite der Staatsanwaltschaft. Das macht Kelley zusammen mit den Cinematographen Doug Emmett und Daniel Voldheim wirklich klasse: Mal sind wir Beobachter der Szenerie, zum Beispiel, wenn beide Seiten zusammenkommen und die Lage besprechen. Dann stehen auch schonmal Gegenstände oder Personen im Weg, wir bewegen uns als Zuschauer:innen im Hintergrund. In den Räumlichkeiten der Verteidigung sind wir auch gerne mal Beobachter aus einer Totalen, stehen perspektivisch über den handelnden Personen oder haben weitwinkelig alles im Blick.
Die Hauptverhandlung des Falls bereitet Kelley stringent vor: Der gefeierte Staatsanwalt Rusty Sabich hat eine Affäre mit seiner Kollegin Carolyn Polhemus. Diese wird eines Tages tot aufgefunden, gefesselt wie in einem Fall, den sie selbst einmal mit Rusty verhandelt hat. Sabich übernimmt die Ermittlungen, diese werden aber gestört durch die Abwahl des Generalstaatsanwaltes Raymond Horgan – der beste Freund und Chef Sabichs. Dadurch kommt Horgans Nachfolger ins Spiel – Nico Della Guardia, dessen Spezi Tommy Molto Sabich ersetzt. Damit hat sich die Gegenseite formiert, die Sabich gleich zur Zielscheibe nimmt und ihn des Mordes verdächtigt.
Die gegenseitige Verachtung der Kontrahenten inszenieren Greg Yaitanes und Anne Sewitzsky großartig. In diesen Fällen kommen wir als Zuschauer:innen kurz aus der Beobachterperspektive und erhalten einen tiefen Blick in die Gesichter der vier Akteure. Es passiert ganz viel in der Mimik der vier, aber auch in der Körperhaltung. Das macht das Quartett – Bill Camp, O.T. Fagbenle, Peter Sarsgaard und Jake Gyllenhaal ganz ausgezeichnet. Auch in den weiteren Rollen ist alles ebenso hochwertig wie extrem passend besetzt – sei es Ruth Negga als Sabichs Frau Barbara oder Elizabeth Marvel als Hogans Frau Lorraine. Und auch Renate Reinsve als Opfer hat viele starke Momente – weil Kelley viel mit Rückblenden arbeitet und sowohl Momente aus der gemeinsamen Vergangenheit des Opfers mit Sabich, als auch mit Molto zeigt. Und auch aus der Mordnacht gibt es viele Szenen zu sehen – was daran liegt, dass das Liebespaar von verschiedenen Menschen beobachtet worden ist – hier entsteht in der Mordnacht Handy-Videomaterial, das wir auch in entsprechender Qualität zu sehen bekommen. Das arbeitet Kelley klasse ein.
Zum Glück geht es dann relativ schnell vor Gericht, und hier ist es eine wahre Freude, Kelley beim Erzählen zuzusehen – und zuzuhören. Er geht tief ins Detail des Falls, lässt seine Figuren mit allen Tricks und Finessen arbeiten. Vor allem auf der Dialogebene bewegt sich die Serie in dieser Phase auf höchstem Niveau – einfach klasse, wie gewieft beide Seiten immer wieder argumentieren und versuchen, sich gegenseitig auszustechen und zu übertrumpfen. Um das noch zu steigern, fügt Kelley persönliche Ebenen der nachgestellten Hauptfiguren ein, hier Hogan und Della Guardia. Letzterer wirkt gegenüber Molto wie ein Coach, Hogan wie ein Ziehvater Sabichs. Hogans kurzzeitiger Ausfall bringt eine zusätzliche Dramatik mit hinein, die sich bis in die letzte Folge steigert, wenn wir in den Stunden vor den entscheidenden Plädoyers sowie vor der Entscheidung der Jury ganz nah im privaten Umfeld der handelnden Personen sind, ohne jeden Dialog. Wir sitzen bei Tommy Molto zu Hause in dessen etwas trostloser Wohnung, bei Lorraine und Raymond am Abendbrot-Tisch, in Rustys Garage, wo er sein Plädoyer übt, im Wohnzimmer bei Barbara usw. Allen Figuren ist die Aufregung, das Entsetzen, die Angst und die Verzweiflung anzusehen, man wird selbst ganz nervös und bekommt ein mulmiges Gefühl. Gerade in dieser Phase überzeugt die Serie meisterlich.
Über das Ende (Achtung, Spoiler)
Am Ende fragt man sich selbstverständlich, wer tatsächlich der Täter war. Als Zuschauer:in spekuliert man natürlich die ganze Zeit mit, verdächtigt den einen, entlastet die andere. David E. Kelley lässt uns auch in Ruhe spekulieren, gibt sogar Hinweise in die eine oder andere Richtung, die man für die eigene „Ermittlung“ hinzuzieht oder gleich ad acta legt. Für mich persönlich wäre es am Ende auch vollkommen in Ordnung gewesen, wenn der Fall nicht aufgeklärt worden wäre – weil das gar nicht der Kern der Erählung ist – sondern wenn nach dem Urteil einfach Schluss gewesen wäre. Wer den Roman und/oder den Film kennt, ist natürlich vorgeprägt, so dass das Spekulieren hier möglicherweise etwas weniger Freude macht. Doch David E. Kelley wäre nicht David E. Kelley, wenn er nicht auch für den Fall etwas Überraschendes, Spektakuläres in der Tasche hätte. Tatsächlich weicht er gerade zum Ende nochmal deutlich von der Romanvorlage ab und führt uns Zuschauer:innen nach dem Ende der Serie noch einmal unweigerlich in große Diskussionen über das eben Gesehene. Auch ganz zum Schluss hat der Serienmacher damit nochmal einen raffinierten Winkelzug parat, auf den man zwar schon vorher kommen könnte und der einem nach der Offenbarung vollkommen nachvollziehbar erscheint, der aber geschickt eine neue Diskussion anstößt, wie insgesamt mit dem Fall umgegangen werden kann, umgegangen worden ist. So oder so ein starkes Stück Serienunterhaltung, was uns Apple hier geliefert hat. Mal wieder.
Bilder: Apple
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