Kennt zufällig jemand noch „Happy!“, die Serie, die die Abenteuer eines desillusionierten, abgehalfterten Ex-Cops/Auftragskillers zeigt, der sich einbildet (oder auch nicht) von einem blauen, rotzfrechen Einhorn begleitet zu werden, das nur er sehen und hören kann? Nein? Dann setzt die Serie sofort auf eure Netflix-Watchlist – ich kann sie nur empfehlen. Warum erzähle ich das? Weil es Benedict Cumberbatch alias Vincent Anderson in der sechsteiligen Miniserie “Eric”, die seit dem 30.05.2024 auf Netflix verfügbar ist, ähnlich ergeht. Vincent kämpft in „Eric“ im New York der 1980er Jahre nicht nur gegen seine inneren Dämonen, sondern auch darum, seinen vermissten Sohn nach Hause zu bringen. Wie üblich möchte ich euch zuerst die Hauptcharaktere der Serie einmal vorstellen, beginnend mit Vincent.
Vincent Anderson
Vincent wirkt sehr intelligent, charismatisch, witzig, aber auch ebenso narzisstisch – ein unsympathischer Zeitgenosse. Er lebt wohl in seiner eigenen Welt, in der vor allem er und sein Job existieren. Eben einer der führenden Puppenmacher und Puppenspieler New Yorks und auch Schöpfer der beliebten Kindersendung “Good Day Sunshine”, die auf dem Sender „PLN“ ausgestrahlt wird, zu sein. Etwas zu recht, schließlich läuft die Sendung seit zehn Jahren (mehr oder weniger) erfolgreich.
„Die Welt erwacht und der Tag beginnt, die Sonne lacht. Ja, da freut sich jedes Kind. Hallo Welt, es ist schön dich zu sehen – komm, nimm meine Hand, lass uns spielen gehen!“
Warnzeichen wie sinkende Einschaltquoten ignoriert Vincent natürlich ganz selbstgefällig und ist für Änderungsvorschläge nicht zu haben, sofern sie nicht seinem eigenen Hirn entspringen. Hilfe bei der Bewältigung seiner zahlreichen Probleme sucht er sich nicht bei Fachleuten, sondern ertränkt sie eher im Alkohol. Ein Teamplayer ist er ganz gewiss nicht, weder beruflich noch im Privatleben. Dies spürt auch seine Familie, allen voran sein neunjähriger Sohn Edgar, der sehr darunter leidet, wenn seine Eltern ihre stets präsente Ehekrise regelmäßig lautstark durch wüste, gegenseitige Beschimpfungen kundtun.
Edgar Anderson
Edgar (Ivan Morris Howe) erleben wir als extrem ruhiges Kind, das sehr introvertiert auftritt, ebenfalls wie sein Vater in seiner eigenen Welt agiert und so wie dieser über eine große Portion Kreativität und Künstlerblut verfügt. In jeder freien Minute zeichnet und entwirft er Charaktere für die Show seines Vaters, seine Liebe zum Detail und sein zeichnerisches Talent fällt auch der Klassenlehrerin auf. Edgar bleibt natürlich die Ehekrise seiner Eltern nicht verborgen und er „saugt“ quasi jedes böse Wort, das gewechselt wird, auf. Die stets präsente ungute Stimmung, die ihm vorgelebte, dauerhaft währende, von negativen Gefühlen aufgeladene Familienatmospähre vergiftet Edgar innerlich – nicht zuletzt, weil er seinem Vater ohnehin nichts recht machen kann. Falls er ihm überhaupt mal zuhört oder ihn beachtet. Vielleicht arbeitet Edgar auch deswegen so besessen an seiner Figur „Eric“.
Eric
Monster Eric erinnert an einen mythischen oder märchenhaften Charakter. Mit knapp zwei Metern Körpergröße und trotz seines flauschigen Fells in verschiedenen Farbtönen, hauptsächlich in Beige und Blau, wirkt er doch sehr einschüchternd. Er besitzt markante Gesichtszüge mit großen, ausdrucksstarken Augen, die blau umrandet sind und große Pupillen aufweisen. Die Nase ist auffällig rot und rund, ähnlich einer Clownsnase. Durch die sichtbare Stirnrunzel wird Eric ein eher etwas grimmiger, aber auch nachdenklicher Ausdruck verliehen. Seine Ohren sind klein und spitz zulaufend, das Fell um den Kopf herum erscheint buschig und bildet eine Art Mähne. Natürlich verfügt er auch über einen Schwanz und obligatorische Hörner.
„Eric ist das, wovor wir uns fürchten. Er ist der Schatten, der hinter uns allen lauert oder auch unter unseren Betten. Er ist das Allerbeste und das Allerschlimmste in jedem von uns. Er ist das Monster, das uns begleitet, Schritt für Schritt.“ (Vincent)
Ob es Eric nun wirklich in einer Art Parallelwelt gibt oder ob es sich nur um eine von Vincent im Rausch halluzinierte Verkörperung seiner Ängste und psychischen Probleme handelt, wird selbstverständlich nicht verraten. Verraten kann man allerdings, dass Eric nicht von anderen gesehen wird, auch nicht von Cassie, Vincents Ehefrau.
Cassie Anderson
Cassie (Gaby Hoffmann) ist ebenfalls eine Künstlerin und sicherlich auch kein einfach gestrickter Mensch. Während ihres Kunststudiums lernte sie Vincent kennen und lieben, anfangs vollkommen aufrichtig und leidenschaftlich. Aber, wie so oft, werden auch diese beiden von der harten Realität des Lebens eingeholt. Durch seine dunkle, toxische Seite und sein oft unberechenbares Verhalten stellt Vincent seine Familie vor ernstzunehmende Probleme. Cassie versucht alles, was nötig ist, die zerbrechende Familie zusammenzuhalten und kümmert sich liebevoll um Edgar. Aber gleichzeitig sucht sie einen Ausweg für sich, versucht einen Ausbruch aus dieser Ehe zu schaffen. Dieser Zustand der fortwährenden Unzufriedenheit im selbst geschaffenen Familiengefängnis findet durch Edgars plötzliches Verschwinden ein jähes Ende. Cassie stürzt sich mit all ihrer Energie in die Suche nach ihrem Sohn. Die Arbeit der Polizei erscheint ihr unsinnig, da sie auch nach Tagen der Suche zu keinem Ergebnis kommt. Entsprechend kühl ist ihr Verhalten zu Detective Ledroit oder ganz allgemein zu allen, die in Verbindung zu Vincent stehen, also auch zu Lennie.
Lennie Wilson
Auch jemand wie Vincent hat Freunde, zumindest einen, den wir kennenlernen dürfen: Lennie Wilson (Dan Fogler) ist Vincents Kollege und bester (auch einziger) Freund. Lennie darf ihn sogar ungestraft „Vinnie“ nennen, für jemanden wie Vincent ein großer Vertrauensbeweis. Auch Lennie gilt als brillanter Puppenspieler und kreativer Kopf. Er fühlt auch eine starke Bindung zu Edgar, da dieser oft zur Werkstatt von Good Day Sunshine kommt und bei Proben/Aufnahmen zugegen ist. Lennie ist, wie Edgar, eher ein ruhiger, introvertierter, sehr emotional agierender Charakter, der die Wärme, die Vincent eindeutig fehlt, mit in die Serie einbringt. Aber auch Lennie hat eine dunkle Vergangenheit, die durch die Ermittlungen der Polizei bald ans Tageslicht gebracht wird. Beim Thema Polizei müssen wir über Detective Ledroit sprechen.
Michael Ledroit
Michael (McKinley Belcher III) ist nach 20 Jahren Dienstzeit bei der NYPD nun als Detective in der Abteilung für vermisste Personen gelandet, wo stets Personalmangel herrscht und Überstunden der Regalfall sind. Kein Wunder, Edgar ist bei weitem nicht das einzige vermisste Kind. Einige Namen stehen seit Jahren auf Akten der bislang ungelösten Fälle. Michael ist dabei stets motiviert das Richtige zu tun und mit vollem Engagement bei der Sache. Er will helfen und die vermissten Kinder finden. Dabei nutzt er auch teilweise unkonventionelle Ermittlungsmethoden, lässt sich von Rückschlägen nicht entmutigen und verfolgt seine eigenen Pläne mit Nachdruck. Sein Privatleben kommt dabei natürlich stets zu kurz, obwohl sein Partner William mit dem Tode ringt.
Interessante, vielschichtige Charaktere, ein unsichtbares Monster, das es gibt oder auch nicht, perfekt arrangiertes 1980er Jahre Feeling und Flair dieser Zeit, eingebettet in eine Story, die den Zuschauer in seinen Bann zieht. Dafür vergebe ich
Die Hauptdarsteller wirken allesamt sehr glaubhaft und spielen ihre jeweiligen Rollen mit Herzblut und viel Engagement. Und tatsächlich hat es mit gefallen, dass die Andersons keine typischen Sympathierträger sind und man sich bei ihnen (vor allem bei Vincent) zunächst etwas schwertut, Mitleid aufzubringen. Dass Edgar von zu Hause weggelaufen sein könnte, erscheint mehr als nachvollziehbar. Beim Setting, das den Zuschauer in das New York der 1980er Jahre zurückversetzt, wurde viel Wert auf Details gelegt. Nicht nur passen die Frisuren und die Kleidung der Protagonisten oder das Mobiliar perfekt, nein, auch der Rest fügt sich ein. So werden Fotoaufnahmen mit original Polaroid Kameras geschossen und Anrufe gibts nur aufs Festnetz, beim Telefonieren behält man immer den (recht schweren) Hörer in der Hand. Ein Anrufbeantworter existiert, aber eben als klobiges Gerät, das viel Platz neben dem Telefon beansprucht. Klar: es wird noch lange keine Handys geben. Fehlen darf auch nicht die damals obligatorische, innerfamiliär gemeinsam eingesprochene, Ansage darauf. Beim Abhören von Aufzeichnungen gibt es die klassischen, tpyisch analogen Rausch- und Spulgeräusche. Polizeiberichte werden noch lautstark auf echten Schreibmaschinen getippt, selbst erstellte Flugblätter werden händisch verteilt, statt online Suchmeldungen via sozialen Netzwerken viral gehen zu lassen.
Weiter wurden Probleme der damaligen Zeit geschickt in die Story integriert, zum Beispiel der aussichtslose Kampf von Ledroits Liebhaber William gegen seine tödliche Krankheit AIDS, die damals noch unerkannt Angst und Schrecken verbreitete. Die 1980er Jahre stellten für New York eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs dar, von der aber nicht alle profitierten. Viele Menschen verloren ihre Arbeitsplätze oder arbeiteten für extrem niedrige Löhne, was letztlich auch zu Wohnungslosigkeit führte. Auch die Crack-Epidemie in den 1980er Jahren trug zur Wohungslosigkeit bei. Viele Menschen wurden süchtig und verloren dadurch Beruf und Wohnungen, ebenfalls die AIDS-Kranken, die ohne soziale Unterstützung ihren Lebensstandard nicht mehr aufrecht erhalten konnten. So stieg die Zahl der Obdachlosen rapide von einigen auf etliche Tausend an, die in U-Bahn-Stationen, auf Parkbänken, in verlassenen Gebäuden und improvisierten Unterkünften lebten. Inwiefern sie hier eine zentrale Rolle spielen, wisst ihr, wenn ihr die Serie gesehen habt.
Auch die Szenen, die Proben bzw. Aufzeichnungen der Kindersendung „Good Day Sunshine“ zeigen, wecken Erinnerungen an die eigene Zeit in der Kindheit, die manche von uns sicher mit den Puppen aus der „Sesamstraße“ verbrachten. Die Puppen hier weisen viele Accessoires, wie zeittypische Kleidung oder spezielle Hüte auf. Für Lennies Puppe, Officer Charlie, verwendeten sie ein echtes „Diensthemd“ aus damaliger Zeit, Bug trägt eine Brille, während Mush überhaupt keine Augen hat – sie sind unter seinem riesigen Haarschopf versteckt. Damit die Schauspieler wie echte Puppenspieler agieren konnten, wurden wirkliche Profis zu Rate gezogen um alle Animationen möglichst authentisch wirken zu lassen. Insgesamt wirkt dieses Setting wie ein Blick hinter die Kulissen in eine der Lieblingssendungen seiner eigenen Kindheit.
Mich hat die Serie allgemein sehr gut unterhalten, ich habe mich „packen“ lassen von der Story, mich darauf eingelassen, Vincent auf seiner Reise zu begleiten, durch seine Süchte, auf dem Weg zu seinem Sohn Edgar. Schade, dass „Eric“ nur sechs Folgen vergönnt wurden, aber scheinbar wurde bereits alles erzählt, was es zu erzählen gibt.
Bilder: Netflix
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