Wenn ich der Therapeutin so gegenüber sitze, frage ich mich immer, was sie gerade wohl so denkt. Ist das totaler Quatsch, was man da erzählt; ist sie gelangweilt, genervt; kann sie einem gerade folgen oder ist sie mit den Gedanken ganz woanders? Die Netflix-Serie „Gypsy“ spielt so ein bisschen mit dieser Situation, zeigt sie aber aus der Perspektive der Therapeutin.
Dabei geht Gypsy ganz gemütlich los. Wir beschäftigen uns eine lange Zeit der Pilotfolge mit der Hauptfigur Jean Holloway, gespielt von Naomi Watts. Sie scheint ein ganz normales Therapeutin-Leben zu führen. Manche Patienten nerven eben, bei anderen fühlt sie mit – aber einige wecken auch augenscheinlich ihr Interesse. Ansonsten sehen wir uns ihren Alltag an, sind morgens beim Kaffeeholen dabei, mittags bei der Supervision, nachmittags bei den nächsten Patientensitzungen. Parallel verläuft ihr ganz normales Leben. Davon erfahren wir aber erst nach gut der Hälfte der ersten Folge. Jetzt sind wir eine ganze Weile Teil dieser Familienidylle mit Ehemann, Tochter, Hund und Haus. Und dann beginnen sich beide Welten zu verweben…
Man kommt gut rein in die Serie. Ich mag den beobachtenden Stil von Kameramann Bobby Bukowski und die zurückhaltende Inszenierung von Sam Taylor-Johnson. Die Kamera kreist langsam ums Geschehen, setzt den Fokus mal auf den Patienten, dann auf die Therapeutin. Die Kameraposition scheint mit den emotionalen Momenten zu spielen, die Jean gerade empfindet. Erzählt der Patienten von Dingen, die sie gar nicht interessiert, ist sie optisch ganz weit weg. Lässt sie ein Thema dicht an sich heran, sind auch wir perspektivisch nah an Jean herangerückt.
Ich mag auch die räumlichen Bezugspunkte, die Sam Taylor-Johnson setzt. Geht’s ums Familienleben, befinden wir uns auf den normalen Level, sozusagen im Erdgeschoss des Hauses. Ihr Interesse wird aber von einer jungen Frau geweckt, die in einem Café arbeitet. Dafür muss sie die Treppe hinab gehen, unter die Oberfläche, in den Untergrund. Sie sucht hier irgendetwas, ist sich aber noch nicht sicher, was sie finden möchte. In den Therapiesitzungen ist sie diejenige, zu denen die Patienten aufschauen. Im wahren Leben ist sie von ihrem Mann gesteuert, von ihm und seinen Entscheidungen abhängig – er sitzt ganz oben in einem Hochhaus, in der Chefetage.
Die Folge lebt neben der Optik und der Inszenierung auch von den Schauspielern. Naomi Watts ist wie immer großartig, aber mir gefällt auch Sophie Cookson als Sidney Pierce auf Anhieb. Dazu kommt noch der klasse Score von Jeff Beal. Leider kommt Lisa Rubin mit ihrem Drehbuch da nicht ganz hinterher. Sie hatte auch die Idee zu Gypsy und hat für die ersten beiden Folgen die Bücher geschrieben. Manche Dialoge sind dann eben doch zu belanglos, zu konstruiert, lenken die Handlung schon in eine Bahn, was es eigentlich noch gar nicht braucht. Aber trotzdem bleibe ich erstmal dabei und gebe Gypsy in einer weiteren Sitzung eine Chance.
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