Jedes Kind hat sich vermutlich schon einmal gewünscht über die Dächer der eigenen Nachbarschaft zu fliegen, in den Kopf der großen Schwester zu blicken oder einfach nur mit einem Schritt die Schwelle des Kinderzimmers verlassen und in einer Eisdiele zu landen. Diese und viele weitere Kinder- und Jugendfantasien haben der Roman-und Comicautor Joe Hill und der Zeichner Gabriel Rodriguez in ihrer gefeierten Fantasy-Comic-Reihe „Locke & Key“ zu einer atmosphärischen Geschichte über Verlust und dem Erwachsenwerden mit magischen Elementen verwoben. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten hat nun Netflix den Comic in ein ansehnliches Serienformat gepackt. Die Serie folgt der Vorlage und handelt von den drei Locke Geschwistern, die nach dem Tod ihres Vaters, gemeinsam mit der Mutter in das Anwesen ihres Vaters in Maine ziehen. Hier finden die drei Geschwister geheimnisvolle Schlüssel mit magischen Fähigkeiten und treffen auf eine böse Dämonin, die es auf die Macht der Schlüssel abgesehen hat.
Die von Carlton Cuse („Lost”), Aron Eli Coleite („Heroes”) und Meredith Averill („Star-Crossed”) kreierte Serienadaption richtet sich, anders als der Comic, an ein jugendliches Publikum und wartet zwar mit allerlei Schauermomenten auf, spart aber die expliziten und drastischen Gewaltexzesse der Vorlage aus. Abgesehen davon und ein paar dramaturgischen Anpassungen, bleibt die Adaption aber der Vorlage weitestgehend treu. Das mag vermutlich auch an der Mitwirkung von Joe Hill selbst als ausführender Produzent liegen. Bereits die erste Folge setzt den Grundstein für den weiteren Verlauf der 10 Episoden umspannenden ersten Staffel. Aus der Vogelperspektive begleitet der Zuschauer die Familie Locke, die sich nach dem brutalen Mord an ihrem Vater auf dem Weg zum Haus ihrer Vorfahren namens Keyhouse machen. Die Fahrt durch die malerische Landschaft erinnert einen sofort an ähnlich gelagerte Szenen aus Stephen King Verfilmungen, wie beispielsweise „Shining“. Gemeinsam mit den Kids erkundet man die neue Bleibe mit seinen imposanten und zahlreichen Räumlichkeiten. Übrigens: Das Haus wurde eigens für die Serie auf einem leeren, isolierten Grundstück in Hamilton angefertigt.
Einer der findigsten und neugierigsten unter den Locke Geschwistern, ist der junge Bode. Wie schon Chris in seiner Review zur ersten Folge angemerkt hat, zählt der 10-Jährige zu den stärksten Figuren der Serie. Dies bleibt auch im weiteren Verlauf der Staffel so. Er ist der Motor der Serie: Er findet die magischen Schlüssel, probiert sie in seinem kindlichen Leichtsinn ohne zu zögern aus und befreit dadurch die bislang im Brunnen eingesperrte Dämonin Dodge. Nicht ganz unschuldig daran, sind meines Erachtens auch die Erwachsenen, insbesondere die Mutter, die den Jungen auffällig oft unbeaufsichtigt lassen. Jeder der Figuren trägt seinen eigenen inneren Kampf aus und muss mit dem tragischen Verlust des Vaters und Ehemanns Rendell umgehen. Da ist zunächst die verantwortungsbewusste Kinsey, die sich auch mal um die Schulbelange von Bode kümmert, wenn die Mutter mal wieder nicht daran denkt. Ihr erster Tag an der neuen Schule bereitet ihr Angst und auch sonst tritt sie unsicher auf. Ihr Pausenbrot verspeist sie in der Schule alleine. Doch ihr Mitschüler Scot sucht sie auf und freundet sich schon bald mir an. Bei all der Angst, die einen großen Anteil ihres Wesens ausmacht, trifft es sich gut, dass Bode einen Schlüssel findet, mit dem man quasi in den eigenen Kopf blicken kann und sogar Dinge entwenden oder hinzufügen kann. Die Innenwelt der Figuren wird in anschaulichen, gigantischen Räumen dargestellt. Bei Kinsey ist es eine riesige, glitzernde Shoppingmall, in der alle Erinnerungen wie im Einkaufsregal eingeräumt sind und damit ein Kontrast zu Kinseys chaotischem Außenleben darstellt.
Die Sequenzen in der Mall erinnern ein wenig an Szenen aus dem Disney-Film „Alles steht Kopf“ – auch hier werden biochemische Prozesse im Menscheninneren verbildlicht. Kinsey entscheidet sich schnell dafür, ihre Angst auszutreiben und schleift die humanoide Version ihrer Angst in den Wald, um sie zu vergraben. Dass Angst aber auch ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens ist, um zu überleben zeigt sich, als sie Scot und eine Truppe von Schülern, die einen Film drehen wollen in eine Meereshöhle führt und diese droht geflutet zu werden. Abgesehen von dieser brenzligen Situation scheint sie aber den Zustand für mehr Wagemut im Klassenkampf mit Mitschülerinnen und in der Liebe zu nutzen.
Anders Tyler, der sich verantwortlich für den Mord an seinen Vater sieht. Er sucht lieber Ablenkung und findet diese in der Mitschülerin Jackie. Um sie beispielsweise zu beeindrucken, fügt er mit Hilfe des Kopfschlüssels einfach Jackies Lieblingsliteratur seinem Gedächtnis hinzu. Während die Locke Geschwister ihre ersten Erfahrungen mit den magischen Schlüsseln sammeln, stößt Dodge ihren perfiden Plan an, den mächtigsten Schlüssel, der das Tor in ein dämonisches Reich öffnet, zu ergattern.
„Diese Schlüssel. Die sind kein Spielzeug. Das sind Waffen.“
Auffällig ist, dass sich die Magie der Schlüssel bei Erwachsenen nicht entfaltet oder sie sich zumindest im Anschluss nicht mehr daran erinnern können. Dies verdeutlicht nochmal die jugendliche Unschuld und das Grundthema des Erwachsenwerdens. Optisch einwandfrei und in düsteren und stimmungsvollen Bildern getränkt, erinnert die Serie an einen Mix aus „Chilling Adventures of Sabrina“ und „Spuk in Hill House“. Die Stimmung wird einzig durch nervige Popsongs gestört, die manchmal an den unpassendsten Stellen eingesetzt wird. So beispielsweise als Sam Lesser, Rendells Mörder, aus dem Gefängnis ausbricht. Auch die Handlungsstränge um Mutter Nina und ihrer Freundin drosseln das Tempo eher, als dass sie die Geschehnisse voranbringen. Die komplette Staffel hindurch glänzen die Jugendlichen und lassen die Erwachsenen deutlich blasser wirken. Und auch, wenn zum Ende hin der gar nicht mal so große Kampf um den Omega-Schlüssel etwas fix abgehandelt wird, ist den Machern mit der ersten Staffel eine runde Sache gelungen. Und wenn in den letzten Minuten noch eine weitere offene Tür angeteast wird, dann kann man sich jetzt schon auf ein Wiedersehen mit den Lockes freuen.
Fazit
Unterhaltsame Gruselgeschichte über das Erwachsenwerden, Verlustbewältigung und Dämonen in einem Spukhaus mit viel Herz.
„Locke & Key“ ist auf Netflix verfügbar.
Bilder: Netflix
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