Die Staffelfinals der großen Serienabräumer haben dazu geführt, dass sich bei dem einen oder anderen Serienfan ein Zeitfenster auftut, in das prima ältere Mehrteiler oder aktuelle Miniserien passen. Glücklicherweise hat Netflix vor kurzem „Marcella“ weltweit (außer in UK, denn von dort stammt die Serie) freigeschaltet – ein tiefgründiges, feines Krimi-Kleinod, das es zu entdecken gilt.
Im Mittelpunkt steht Detective Sergeant Marcella Backland, eigentlich außer Dienst und stattdessen intensiv damit beschäftigt, ihre aktuelle Beziehungskrise irgendwie in den Griff zu bekommen. Ein alter Fall holt sie jedoch ein, und sie entschließt sich, wieder in die Ermittlungsarbeit einzusteigen.
Die Welt hat sich natürlich mittlerweile weitergedreht: Es gibt einen neuen Chefermittler, ein neues Team, nur ihre alte Chefin Laura Porter ist noch da. Die weiß Marcella zu nehmen und warnt Chefermittler Rav Sangha gleich mal vor. Denn Mercellas Ermittlungsmethoden sind mitunter verbissen, bizarr, aber auch genial.
Optik und Erzählweise der ersten Serienminuten erinnern mitunter an klassische schwedische Krimis, was nicht weiter verwundert, da „Marcella“ aus der Feder des Schweden Hans Rosenfeldt stammt, der sich mit „The Bridge“ einen Namen gemacht hat. „Marcella“ hat ein bisschen was von der tollen Krimiserie „Verdict Revised“, aber auch etwas von dem lockeren, jugendlichen „Skins“ des UK-Senders E4. Gedreht wurde in London, und von der beeindruckenden Optik der englischen Hauptstadt wird dann in jeder Folge auch ausgiebig Gebrauch gemacht. Die drei Regisseure Jonathan Teplitzky, Wallander-Experte Charles Martin und Henrik Georgsson lieben es nämlich offensichtlich, Londons Architektur aus allen Perspektiven zu zeigen. Nicht selten werden Gebäude formatfüllend gezeigt, derweil die handelnden Personen nur klein am Rand die Szenerie passieren.
Die London-Szenen werden ergänzt um verfremdete Schnappschüsse von Lichtern, Fahrzeugen, Regentropfen und Menschen, so dass vielfach eine unwirkliche Stimmung entsteht. Die wird unterstützt von den mitunter ungewöhnlichen Schnitten: Manchmal werden Szenen in der Chronologie vermischt, so dass man sich oft erstmal orientieren muss, wo und wann man gerade ist. Dazu kommt noch Marcellas Eigenarten, bis hin zu ihren Blackouts, die ein wesentliches Merkmal ihres Alltags und ihrer Ermittlungsarbeit werden.
Loben muss man die Macher bei itv auch für die Besetzung: Jede Figur ist wirklich toll besetzt, angefangen bei Marcella, klasse gespielt von Anna Friel („Pushing Daisies“). Ihr gelingt es großartig, die Zerrissenheit des Charakters von Marcella darzustellen. Ihr nimmt man jede Verzweiflungstat, jeden Blackout, jedes kritische Wort ab. Dann Ray Panthaki, der den neuen Chefermittler spielt. Einerseits zu zeigen, wie er Marcella bewundert, dann aber auch zu zeigen, wie er sie als Konkurrentin fürchtet, das gelingt ihm sehr gut. Auch die Nebenrollen, zum Beispiel Sinéad Cusack als Patriarchin Sylvie Gibson und Nicholas Pinnock als Jason Backland, wirken passend und glaubwürdig. Dann ist da noch Jamie Bamber (Battlestar Galactica-Fans, frohlocket!), der als smarter Ermittler Tim Williamson tätig wird.
Auch die Story selbst ist überzeugend, und hier kommen wir zum eigentlichen Punkt, der „Marcella“ neben den anderen Punkten so besonders macht: Ich habe zwischendurch nicht mehr mitgezählt, wieviele Wendungen Hans Rosenfeldt in die acht Folgen eingebaut hat. So oft denkt man, dass jetzt klar auf der Hand liegt, welche Figur für welches Vergehen verantwortlich ist, doch immer wieder dreht sich das Blatt und es geht in eine andere Richtung. Das macht vor allem so in den Folgen 2 bis 4 so richtig Spaß. Danach ebbt es etwas ab, die Serie verfängt sich etwas in dem selbst gezogenen, engen Geflecht aus Handlungssträngen und Personenbeziehungen, so dass zum Ende hin ein wenig ein Gefühl von Müdigkeit aufkommt. Da wünscht man sich eine straffere Erzählweise; ein bis zwei Folgen hätte man sich hier tatsächlich sparen können. Auch geben einem ein paar Gegebenheiten Rätsel auf, zum Beispiel wie einfach es offensichtlich jedem gelingt, in fremde Wohnungen einzudringen. Das macht nicht so viel Freude.
Das soll den Gesamteindruck aber nur wenig schmälern. Insgesamt kann man mit „Marcella“ jede Menge Spaß haben, mitermitteln und mitleiden. Auch Nicht-Krimifans werden gerne zuschauen, weil fast alles eben einfach gut gemacht ist und alle Mitwirkenden vor und hinter der Kamera verstehen, was sie tun. Auch wenn die Serie aufgrund ihrer zeitlichen Programmierung nur ein Lückenfüller zwischen dem Mainstream sein wird, ist sie doch eines der Highlights, an das man sich beim Rückblick auf das Serienjahr zurückerinnern wird.
Kommentiere
Trackbacks