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Spoilerarmer Blick auf den Netflix-Import

Review: Marcella – Staffel 2

29. Mai 2020, 09:30 Uhr

Marcella Backland ist ein schwieriger Charakter – und ein vielschichtiger, was nicht nur Staffel 1 der ITV-Serie „Marcella“ gezeigt hat, sondern auch der Auftakt von Staffel 2, zu dem ich ja bereits ein Review verfasst hatte (hier zu finden). Uns sind viele Sachen immer noch nicht klar, die mit Marcellas Charakter zu tun haben. Das Gute, zumindest aus dramaturgischer Sicht: Es ist Marcella selbst auch nicht klar. Doch dazu später mehr.

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Zunächst einmal befinden wir uns in dem aktuellen Fall, in den Marcella persönlich stärker involviert ist, als es ihr lieb ist. Kein Wunder, ist doch ihr persönliches Umfeld sowieso schon durcheinander genug: Ihr Ex-Mann, der sich mit seiner neuen Frau ein eigenes Leben aufbauen möchte, ringt darum, das Sorgerecht für den gemeinsamen Nachwuchs zu bekommen. Er schreibt es ihrem Job zu, aber auch ihrem Charakter und ihrer Lebensweise, die mit immer wieder auftauchenden Aussetzern gespickt ist – die im Laufe der Folgen auch immer heftiger werden. Sie selbst kann sich an nichts erinnern – was die Aussetzer für sie auch noch einmal gefährlicher macht, denn sie ist immer noch gequält von der Frage, wie es damals um den Tod ihres Kindes bestellt war…

Da passt die direkte Einwirkung des neuen Falls auf ihr persönliches Umfeld natürlich so gar nicht. Denn sie wird dadurch nicht nur in ihrer Polizeiarbeit beeinflusst, sondern erfährt auch neue psychische Belastungen, die zu zweifelhaften Annahmen und Maßnahmen führen, und die auch ihre psychischen Aussetzer verstärken. Diese vielen Konflikte, die sie durchleben muss, setzt Anna Friel einfach großartig um. Da ist so viel Dramatik in ihrem Spiel, so viele extreme Abgründe – das ist schon ziemlich beeindruckend beim Zuschauen und sorgt in vielen Momenten für echte Schockmomente vor dem Bildschirm. Natürlich leidet man mit Marcella mit, man will sich aber auch immer wieder einmal abwenden von diesem abgründigen Charakter, der dann und wann einfach auf der falschen Spur unterwegs zu sein scheint. Das geht schon in Richtung Selbstschutz, wenn man sich als Zuschauer abwendet.

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Auch der Fokus dieser Staffel ist harter Stoff. Es geht um Kindesentführung, Kindesmissbrauch, Kindestötung. Das ist an sich schon belastend, weil Autor Hans Rosenfeldt die Geschichte einfach auch hautnah und ohne Zurückhaltung erzählt – drastisch, aber nicht voyeuristisch. Das ist aber noch einmal belastender, wenn man selbst Kinder hat und damit selbst eine persönliche Ebene zu der Geschichte in Staffel 2. Auch die Inszenierung drumherum ist wie in Staffel 1 wieder absolut hochwertig gemacht, angefangen vom Score von Lorne Balfe („The Crown“, „Ad Astra“, „Black Widow“) über die Cinematography von Ula Pontikos bis zu der Inszenierung der Regisseure Charles Martin (wie Staffel 1), Charles Sturridge und Jim O’Hanlon.

Letzterer darf dann auch das Staffelfinale inszenieren, das der ganzen Staffel noch einmal einen draufsetzt. Natürlich bekommen wir die Lösung des Falls präsentiert, bei der Marcella wieder alle Mittel einsetzt, die ihr einfallen, bis hin zu nicht ganz legalen Maßnahmen. Schön erzählt wird, wie sie die Täterin im Prinzip spiegelt, Kind gegen Kind einsetzt, Entführung gegen Entführung. Auch die Gründe für das Vorgehen der Täterin erschüttert noch einmal. Ganz klar, es sind fatale, dramatische Verbrechen, die sie vollzogen hat, aber der Begründung dafür einen solch eigentlich positiven Beweggrund entgegen zu setzen, das hat schon was.

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Und als alle mit dem Fall und der Staffel abgeschlossen haben, setzt Hans Rosenfeldt noch einmal eins drauf. Da war doch noch was…

… genau, Marcellas Aussetzer und die Frage danach, was mit ihrem Kind damals passiert ist. Sie setzt alles daran, die wahren Gründe für den Verlust ihres Kindes daran zu setzen. Man hat immer befürchtet, das zu sehen zu bekommen, was Marcella schließlich gezeigt wird. Nochmal eine weitere Klippe, von der man stürzt, obwohl man schon dachte, unten angekommen zu sein. Ein extremer Schmerz, der auch den nächsten Schritt von Marcella aufs Dach nachvollziehbar erscheinen lassen. Noch ein Sturz? Nein, sie wird vom Dach zurückgeholt, nur um noch einmal tiefer zu fallen. Und so schließt die Staffel mit einem weiteren Drama, wie man es nicht erwartet hatte und man es sich auch nicht hätte vorstellen können. Wieder so ein Moment, wo man sich abwenden möchte, von dem, was man sieht, und von dem, was sie ist. Sie landet ganz unten, und man denkt einerseits, ‚das hat sie auch nicht anders verdient‘, und auf der anderen Seite, ‚das war nicht sie, sie kann doch nichts dazu‘. Insofern ist man auch zwiegespalten, als ein neuer Hoffnungsschimmer in die absolute Dunkelheit fällt. Gönnt man ihr das? Gönnen wir uns das?

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Auf jeden Fall hat uns Hans Rosenfeldt hier eine ganz schwer zu konsumierende Kost vorgesetzt. Man muss sich mitunter zwingen, weiterzuschauen und dabeizubleiben. Man muss sich selbst immer wieder hinterfragen, ob man Marcella richtig einschätzt, ob man angemessen mit ihr umgeht. Diese zweite Staffel macht viel mit einem als Zuschauer, und sie lässt einen auf jeden Fall bewegt zurück. Dramaturgie, Inszenierung, Darstellung und Gesamtpräsentation sind über jeden Zweifel erhaben. Ich habe mich gefragt, ob wir den Teil nach der Auflösung des eigentlichen Falls gebraucht haben. Sicher, die Frage nach dem Schicksal von Marcellas Kind war immer noch offen, aber irgendwie wollte man die Antwort auch gar nicht bekommen. Jetzt haben wir sie, und Hans Rosenfeldt liefert auch noch einige Antworten zu anderen Fragen hinterher. Der Kniff mit dem vermeintlichen Tod von Marcella ist natürlich clever eingesetzt und knüpft die Verbindung zur entscheidenden Speichelprobe in Staffel 1, die Marcella rettete. Der Prolog schafft natürlich auch vollkommen neue Spielräume für eine neue Staffel. Denn das sie als normale Ermittlerin weiter macht, war eigentlich ausgeschlossen. Jetzt kann sie neue Wege gehen, wie es auch die Serie getan hat – wenn sie denn möchte.

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Freitag, 29. Mai 2020, 09:30 Uhr
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