Als ich vor vielen Jahren für die Lokalzeitung hier am Ort gearbeitet habe, war das nicht immer einfach: In so einem Städtchen kennt einfach jeder jeden, und natürlich kennt man vor allem die Mitmenschen, die bei Polizei, Feuerwehr oder eben Zeitung arbeiten. Heißt auch, dass man von Menschen gegrüßt wird, die man selbst kaum kennt, dass man beim einfachen Spaziergang durch die Innenstadt darum gebeten wird, mal eben ein Foto zu machen oder mal wieder bei diesem und jenem Verein vorbeizuschauen. Privat ist man da nicht mehr unterwegs, und irgendwann ist auch eine Grenze erreicht.
Das ist auch insofern schwer, als dass man als Journalist ja durchaus unabhängig und unbefangen durch die Weltgeschichte geht, und bei der Polizei ist das ja nichts anderes. Insofern kann ich das Dilemma von Mare Sheehan, der Protagonistin aus „Mare of Easttown“, nur allzu gut verstehen. Es ist eben schwierig, in so einer kleinen Stadt wie Easttown als Ermittlerin unterwegs zu sein, weil man unweigerlich in Gewissenskonflikte geraten kann. Was tun, wenn jemand aus dem Freundeskreis zu den Verdächtigen in einem Mordfall gehört? Oder wenn die Tochter der besten Freundin entführt wurde und Du als Ermittlerin bei der Aufklärung erfolglos bleibst? Oder wenn Du Beweise und Indizien manipulieren kannst, um Deine persönlichen Interessen durchzusetzen?
„Mare of Easttown“ spielt sehr schön mit diesen Themen (hatte ich im Review zur 1. Folge schon beschrieben), ohne uns Zuschauern die Aspekte zu aufdringlich oder zu platt auf dem Tablett zu servieren. Das gelingt Showrunner Brad Ingelsby auch deswegen, weil er den Charakter der Mare Sheedan entsprechend facettenreich aufstellt: Hier die deprimierte und vom Leben enttäuschte private Mare, eher antriebslos, aber immer für Freunde und Familie da. Auf der anderen Seite die dienstliche Mare, die auch bei der harmlosen Fahrt durch die Straßen immer ein Auge für Unrecht hat – und direkt eingreift.
Zwei Fälle betreffen die aktuelle Arbeit von Mare – ein Entführungsfall und ein Mordfall. Beide Fälle spielen weit in die privaten Kreise von Mare hinein, und es trifft sie, dass der Bereich in ihrem Leben, in dem sie noch akribisch und engagiert ist, zu einer Belastung für ihr privates Leben wird. Ganz spannend ist, wie Brad Ingelsby bei Mare Privatleben, Entführung und Mordfall miteinander verstrickt. Er hat ja sieben Stunden Zeit (in sieben Folgen), alles zu erzählen, das heißt aber nicht, dass er alles ans Ende packt. Im Gegenteil: In Folge 5 wird – etwas überraschend – der Entführungsfall aufgeklärt, in Folge 6 der Mordfall. Meint man zumindest, denn derweil man sich schon darauf eingestellt hat, in Folge 7 einen reinen Prolog präsentiert zu bekommen, wie man das sonst so von Krimiserien kennt – man spricht nochmal über alles, setzt nochmal das Puzzle zusammen – verabschiedet sich von der Szenerie – wird man dann doch etwas überrascht von den Wendungen, die alleine Folge 7 übrig hat.
Wir haben ja schon das Geständnis von Billy gehört, dass er der Mörder von Erin McMenamin ist. Sein Bruder John presst es aus ihm heraus, und man wundert sich am Ende von Folge 6 kurz, warum er mit Billy nochmal rausfahren möchte zum Angeln, und eine Waffe mitnimmt. Warum würde er ihn umbringen wollen, wenn er doch sowieso schon geständig ist? John hatte in der Beobachtung seines Vaters, der Billy mit blutverschmierten Klamotten gesehen hatte, eine Chance gesehen, einen Sündenbock zu finden, um seine innerste Familie zu schützen. Letztlich kann er es doch nicht und gibt sich selbst als Täter preis. Doch auch das ist noch nicht der letzte Schritt. Wie Mare fragen auch wir uns im Laufe der letzten Folge, ob die eine oder andere Ungereimtheit in dem Fall wohl etwas zu bedeuten hat. Durch einen Zufall setzt sich das Puzzle für Mare – und uns – dann neu zusammen und wir erkennen den wahren Täter.
Dieser Zufall – für mich im ersten Moment etwas zu konstruiert – macht aber im Gesamtkontext der Serie auch wieder Sinn, denn Mare wird in ihrer Routinearbeit zu einem alten Bewohner Easttowns gerufen, dem Sachen abhanden gekommen sind. Die beiden wechseln erst ein paar private Dinge, weil er mit Mares Mutter mal eine Affäre hatte und nicht weiß, wie er sich jetzt verhalten soll. Eher beiläufig kommen sie auf die gestohlenen Sachen zu sprechen – und Mare erfährt, dass die Mordwaffe unter den gestohlenen Dingen ist. Dann muss sie erkennen, dass sich der Mörder tatsächlich in ihrem direkten Umfeld befindet.
Und ab dem Punkt fängt man selbst auch an zu grübeln: Wie würde man sich an Mares Stelle verhalten? Wenn man weiß, dass der Mörder ein Kind ist, es unbeabsichtigt war und das Kind der Sohn der besten Freundin ist? Wenn es überhaupt nur zu dem tödlichen Schuss kam, weil der Sohn – Ryan – seine Familie beschützen wollte? Weil er es nicht ertragen konnte, dass sein Vater eine Affäre mit Erin hatte, und wenn man weiß, dass sich John selbst opfern wollte, um letztlich seinen Sohn zu schützen? Würde man es sobelassen, weil es moralisch vielleicht in Ordnung sein könnte? Weil man anderen Menschen Schmerz und Leid ersparen würde?
Brad Ingelsby stellt diese Fragen ganz offen in der Folge – er lässt Mares Freundin Lori (Mutter von Ryan und Ehefrau von John) genau das fragen – direkt an Mare gerichtet. Mare selbst hat als Polizistin keinen Moment gezögert. Der wahre Täter muss ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden – koste es, was es wolle. Und er bekommt auch seine Strafe, das zeigt Brad Ingelsby nochmal ganz deutlich beim Besuch von Lori in Ryans Jugendeinrichtung. Das schmerzt natürlich extrem und zeigt nochmal ziemlich stark den Konflikt zwischen professioneller Arbeit und dem Privatleben in der gleichen Kleinstadt auf.
Drumherum hat der Showrunner noch ein paar kleine Stories drapiert, die er am Ende ebenfalls auflöst – mit dem besonders starken Motiv ganz am Ende natürlich, wenn Mare sich tatsächlich entscheidet, doch noch einmal den Dachboden zu betreten – den Ort, an dem ihr persönliches Leiden begonnen hatte. Mit dem starken Bild beendet Brad Ingelsby die Erzählung.
Und damit hat er eine wirklich fast ausnahmslos überzeugende Miniserie abgeliefert. Sie ist vielschichtig, toll erzählt, stark inszeniert und hervorragend gespielt. Man muss schon suchen, um Kleinigkeiten zu finden, die einem nicht so ganz passen (z. B. dass die Mordwaffe vielleicht zwei Stunden verschwunden war und genau dieser Umstand mitten in der Nacht entdeckt wird), ansonsten bekommt man einen packenden Krimi präsentiert, dessen Auflösung lange Zeit nicht allzu offensichtlich ist und der eben sehr viel Privates der handelnden Figuren zulässt. Deswegen eine absolute Serienempfehlung, nicht nur für Krimifans, sondern auch für diejenigen, die sich selbst in ihren Kleinstadt- oder Stadtteilstrukturen gefangen fühlen und entsprechend gut nachfühlen können, was für ein Typ Mensch Mare ist.
Bilder: HBO
Dem ist nichts hinzuzufügen!
„… Deswegen eine absolute Serienempfehlung …“
Tatsächlich eine herausragend gut gemachte und intensiv gespielte Serie! Absolute Empfehlung!
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