Eine junge Frau zieht von New York nach Berlin, um sich aus der räumlichen Enge ihrer Familie zu befreien und ein neues Leben anzufangen. So weit, so unspektakulär. Finden auch einige Figuren in der Geschichte „Unorthodox“, die Alexa Karolinski und Anna Winger in der neuen Netflix-Produktion gleichen Namens erzählen. Warum New York verlassen? Warum nach Berlin ziehen? Spannend wird die Geschichte durch die Umstände, die Esty, eben diese junge Frau dazu bewogen hat, diesen Schritt zu gehen. Sie flüchtet vor den ultra-orthodoxen Zuständen in ihrem Lebensumfeld in Williamsburg, einer Hochburg der Satmarer. Von der Enge und den Zwängen dieser Seite des Atlantiks und der Weite und Lockerheit auf der anderen Seite erzählen diese vier Folgen – vielfach in beeindruckender Art und Weise.
Denn an vielen Stellen wirken die knapp vier Stunden Story wie ein Historienfilm oder eine Dokumentation, allerdings versetzt in die Jetzt-Zeit. Wir sehen die einfache Ausstattung der Wohnungen, die typische Kleidung der Männer und Frauen, die Tücher, die Scheitl, die Schläfenlocken, die Schtreimel. Man fühlt sich Jahrzehnte zurückversetzt – bis eine der Akteure die Umgebung verlassen muss, um einkaufen zu gehen oder andere Dinge zu erledigen. Ein optischer Kulturschock, irgendwie. Es ist aber einfach faszinierend, diese Welt vorgeführt zu bekommen, in sie einzutauchen, teilweise minutenlang Ritualen zu folgen. Das sind zugleich die Highlights von „Unorthodox“: Allen voran die Vermählung von Esty und Yakov, der wir den Großteil einer Folge lang folgen dürfen. Oder das Zusammenkommen der Familie rund um den Rabbi, oder das Entfernen der Haarpracht von Esty nach ihrer Vermählung. Das sind dann auch die starken Momente von Hauptdarstellerin Shira Haas. Sie kann mit ihrer Mimik so unglaublich viel ausdrücken, beim Haare schneiden zum Beispiel, oder später auf der Bühne in der Musikhochschule. In vielen Momenten lebt die Erzählung dann einfach auch von Shira Haas, aber auch von Amit Rahav, der Yakov spielt. Seine unschuldige, zurückhaltende Art erzeugt direkt Sympathien beim Zuschauer, und man leidet auch später mit ihm, wenn er sich auf die Suche nach Esty begibt. Dabei wirkt er so herrlich unschuldig, wenn er das Smartphone von Moishe nach dem Standort seiner Frau befragt, oder wenn er zum Hochzeitsessen Esty gegenüber sitzt, oder noch davor, wenn beide zum ersten Mal sich gegenübersitzen. Auf der anderen Seite haben beide zusammen auch einfach große Momente, zum Ende hin zum Beispiel, wenn Yakov sogar seine Schläfenlocken opfert, um Esty zu zeigen, dass es ihm ernst ist.
An vielen Stellen profitiert die Serie weniger von der Art der Erzählung (obwohl man sagen muss, dass clever erzählt ist, dass Estys Ausweg aus ihrer Enge ausgerechnet die Musik, ja sogar der Gesang ist, wo doch gerade die Musik ein wichtiges Element der Satmarer ist) als vielmehr von der Optik. Das geht auf das Konto von Kameramann Wolfgang Thaler, der für seine dokumentarischen Künste bekannt ist und hier Momente wie eben die Hochzeit oder die Familientreffen ins perfekte Licht rücken kann. Bei den Treffen sitzen wir quasi mit am Tisch, wir sitzen praktisch neben dem Rabbi. Oder sitzen Esty direkt gegenüber, wenn ihre Haarpracht fällt und sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Das ist toll eingefangen und hinterlässt nachhaltig Eindruck. Es fühlt sich alles authentisch an, nichts überzogen, nichts klischeehaft bedient. Das ist dann auch als Lob an die Produktion zu verstehen, insbesondere an die Ausstattung und Kostüme (eindrucksvoll zu sehen im Making of zur Serie), aber auch an Eli Rosen, der nicht nur den Rabbi spielt, sondern auch für die authentische jiddische Sprache verantwortlich war. Denn, daran muss man sich erst gewöhnen, in vielen Momenten der Folgen wird jiddisch gesprochen. Natürlich untertitelt, man sollte aber nicht zu viel auf den Text schauen, da man erstens vieles aus dem Zusammenhang versteht und zweitens dann zuviel vom tollen Spiel der Darsteller verpasst.
Jetzt stellen sich viele die Frage, ob der Kontrast zwischen Williamsburg und Wannsee so sein muss, wie er eben rüberkommt. Hier das graue Williamsburg mit der räumlichen und emotionalen Enge, dort das liberale, freie Berlin. Sicher ist Berlin hier richtig bunt geworden, der neue Freundeskreis von Esty recht stereotypisch zusammengestellt, und natürlich wird hier auch mit dem lockeren und angesagten Berlin kokettiert. Aber ich finde, dieser Kontrast muss auch sein, um den absoluten Unterschied zwischen beiden Welten noch einmal zu betonen. Anders als andere Berlin-Serien wird hier nicht Berlin gefeiert, sondern das Lebensgefühl, die Lebenseinstellung der dortigen, jungen Generation, wie es auch Maria Hunstig in der „VOGUE“ schreibt. Ich bin deswegen auch nicht bei Sophia Zessnik, die für „ze.tt“ davon spricht, dass „Unorthodox“ die Probleme jüdischer Menschen in Berlin ausspare. Das war nicht der Anspruch von „Unorthodox“, und das wäre bei der Intention der Serie auch der falsche Ansatz gewesen, hätte zumindest die eigentliche Geschichte zu sehr verwässert. Nein, „Unorthodox“ braucht genau diesen kontrastreichen Anstrich, den Maria Schrader ihr verpasst hat.
Dieser extreme Kontrast trägt die Story von „Unorthodox“ nämlich noch einmal ganz deutlich. Deswegen kann ich zudem Alan Poseners Kritik in der „WELT“ nicht nachvollziehen, „Unorthodox“ bediene antisemitische Klischees. Was man ihm entgegenhalten muss, ist, dass „Unorthodox“ vor allem Bilder liefert und das Leben der ultra-orthodoxen Gesellschaft ganz unaufgeregt erzählt. Es werden keine gefärbten Bilder präsentiert, keine Vordeutungen verfasst. „Unorthodox“ lässt genug Raum, in dem sich die Zuschauer selbst ein Bild machen können. Das kann in die meines Erachtens falsche Richtung gedeutet werden, wenn man von dem mittlerweile schnell parat liegenden Reflex ‚Das ist Antisemitismus‘ getrieben wird, das kann aber auch als eine ziemlich originalgetreue Darstellung der Satmarer gedeutet werden, wie es Hannes Stein, ebenfalls in der „WELT“ getan hat.
„Unorthodox“ ist ein Kunstwerk, sagt Hannes Stein außerdem, und er weist darauf hin, dass ein Kunstwerk an seinen eigenen Maßstäben gemessen werden müsse. Das kann ich auch nur jedem empfehlen: Die vier Stunden sind sehr gut investierte Serienzeit. Man lernt nicht nur die faszinierende Kultur der Satmarer kennen, sondern bekommt auch tolle Bilder und überzeugende Darsteller präsentiert. So spannend kann es sein, einer zunächst einfach klingenden Story einer jungen Frau, die von New York nach Berlin flieht, zu folgen.
Bilder: Anika Molnar/Netflix
Tolle Kritik, kann ich komplett unterschreiben. Aber die Hauptfigur heißt Esty, nicht Etsy. Vielleicht könnt Ihr das noch ändern.
Liebe Grüße, Anni
Dannke Dir, Anni. Und der Name ist angepasst – immerhin hatte ich ihn konsequent durchgehend einheitlich (falsch) geschrieben. ;-)
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