„Grea is des, wos übrigbleibt, wann die Sunn auf d’Wiesn scheint. Rot, blau, schworz, grea – Gelb is des wos übrigbleibt, wanns Blut unter der Haut dafeit.
Roud is des wos übrigbleibt, wann sa se in d’Arm nei schneidt – und am End sans weiße Strich, die übrig bleim – a Himmlsloiter ohne Kreiz“
Was ist das jetzt gewesen? Folklorefreie Volksmusik der Gruppe „Dreiviertelblut“, in schönem bayrischen Dialekt vorgetragen. Der Titelsong zur neuen deutsch-tschechischen Serie „Oktoberfest 1900“, die seit dem 15. September 2020 auf „Das Erste“ ausgestrahlt wird. Eine fiktionale Dramaserie, die in drei Doppelfolgen ihre Zuschauer finden soll und wird. Was erleben wir? Irgendwie eine Art „Entstehungsgeschichte“ des wohl berühmtesten Volksfestes der Welt, so wie es in seiner heutigen Form zu finden ist. Was sich anfangs noch auf einer wirklich dreckigen Wiese mit ein paar wenigen Zelten – fest in der Hand einheimischer Bierbrauer – sowie einigen wenigen Buden und Attraktionen zur Volksbelustigung abspielte, gehörte zumindest für die Münchner Bevölkerung zu den Highlights des Jahres. Denn schon damals erregte die Wiesn, die Idee des „Massen-Bierfestes“, die Gemüter von Volk und Investoren, obwohl sie noch längst nicht das Partyevent für Millionen Fans auf der ganzen Welt darstellte.
Schnelles, leicht verdientes Geld lockte aber auch um 1900 den fränkischen Bierbrauer Georg Lang nach München, er hatte eine große Idee: Eine Bierburg mit Platz für 6.000 zahlende (und gern sehr durstige) Gäste wollte er errichten. Soweit der wahre Hintergrund. In „Oktoberfest 1900“ dient Lang als Vorlage für den Nürnberger Brauer Curt Prank (Misel Maticevic), der selbiges Ziel wie seinerzeit der echte Lang verfolgt. Die Schanklizenzen und Standplätze waren begehrt und beides zu erringen ist Curts Ziel und scheinbar ist ihm auch jedes Mittel recht, seine Vision zu verwirklichen. Deshalb dauert es auch nicht lange, bis es die erste Leiche gibt: zufällig Bierbrauer Ignaz Hoflinger (Francis Fulton-Smith), der seinen Betrieb trotz roter Zahlen „ums Verrecken“ nicht verkaufen will – egal, wie hoch die Angebote von Prank sind.
Schauen wir uns die Beteiligten doch einmal näher an: Curt Prank hatten wir schon kennengelernt, dieser hat auch eine hübsche Tochter, Klara, für die anfangs gleich eine Anstandsdame gesucht und gefunden wird: Colina Kandl (Brigitte Hobmeier). Diese fällt bereits zu Beginn durch ihr durchtriebenes Wesen auf, als sie die Reihe der Bewerberinnen für den Job als Anstandsdame durch geschickte Manipulation auszudünnen weiß. Sie wird uns auch die ganze erste Staffel hindurch begleiten. Weiter gibt es da auch noch Kannibalen, richtige, echte Wilde „aus der Südsee“ eben, die die Welt noch nicht gesehen hat. So steht es zumindest auf den Schildern der Jahrmarktsattraktion, die das Oktoberfest noch anziehender für die Bürger machen soll. Nachdem Kannibalen ja eben nicht wirklich eine erforschte Spezies darstellen, glaubt der brave bayerische Bürger natürlich jede Horrorstory, die er über diesen Volksstamm zu hören kriegt. Entsprechend schnell dürfen diese ihre vermeintlich ungewaschenen Hälse als Sündenbock für den eingangs erwähnten, ersten Mord am Brauer hinhalten. Ein entsprechend flott gebildeter Lynchmob wird von dessen Sohn Roman (Klaus Steinbacher) angeführt.
„Auf geht’s. Mir hänger diese Gratler am nächsten Baam auf!“
(Roman Hoflinger zum Mob)
Ob das etwas daraus wird, sei an dieser Stelle nicht verraten, lasst euch überraschen. Aber, weiter im Text: Ein alter Bekannter, zumindest für diejenigen unter uns, die gern bayerische Serien schauen, ist auch mit von der Partie. Maximilian Brückner. Dieser fiel mir zuletzt als Bürgermeister in „Hindafing“ auf, wo er wirklich, wie auch in meiner Review zu lesen, in seiner Rolle brillierte. Einer meiner Lieblingsschauspieler, definitiv. Hier darf er den windigen Großbrauer Anatol Stifter (nur Mama nennt ihn Anatol) geben, mit pomadig nach hinten geklatschter „Scheißfrisur“. Stifter ist ein Mitglied des berüchtigten Bierbrauer-Kartells, das hinter den Kulissen die Geschicke aller mit dem Oktoberfest verknüpften Unternehmer lenkt – fast schon eine Art „Geheimloge“. Ein weiterer aus „Hindafing“ bekannter Schauspieler ist auch am Start: Michael Kranz, in Hindafing noch Pfarrer Kraus, ist hier als geschmierter und lügender Stadtrat Urban zu sehen. Ähnlich einem Marionettenspieler zieht er die Fäden, wechselt die Parteien derer, die er unterstützt, ganz wie man sich eben einen erfolgreichen Politiker vorstellt.
„Hundskrippel, vermaledeiter! Koa Respekt vorm Tod!“
(Maria Hoflinger zu Roman, nach Gespräch mit Stadtrat Urban)
Lynchmob-Anführer Roman Hoflinger, ältester Sohn des urplötzlich verstorbenen Brauers Ignaz, hat derweil Großes vor mit der Familienbrauerei „Deibel Bräu“. Exportieren ins Ausland will er, der Traumtänzer (zumindest, wenn es nach seiner Mutter Maria (Martina Gedeck) geht, ist er das!). Der Tod seines Vaters kommt ihm daher gelegen, um seine Vision zu verwirklichen. Dies wird leider ausgebremst durch seine Mutter, die stets betont, dass die Brauerei die ihre ist. Sie habe diese schließlich geerbt, Ignaz war nur ihr Ehemann. Romans Bruder und Lieblingssohn Ludwig (Markus Krojer) spielt quasi nur eine Nebenrolle. Einigen Cineasten bestens bekannt als Bub Sebastian bei „Wer früher stirbt, ist länger tot“, gibt hier er den Künstler und gefühlvollen Romantiker, der gar kein Interesse an der familieneigenen Brauerei samt Wirtshaus hat, aber von Mama Maria dahingehend gedrängt wird. Viel lieber will er in die Schwabinger Bohème aufgenommen werden und sich dort einen Ruf als Maler machen. Sein eigenes Liebesleben kommt ihm dabei in die Quere, wohingegen selbiges von Roman zu Verbandelungen, die später im Verlauf der Serie zu einer anfangs nicht denkbaren Allianz gegen das allmächtig erscheinende Bierbrauer-Kartell, führt.
Es geht deftig zu in dieser Serie, nicht nur bezogen auf die berühmt-berüchtigte, kalorienhaltige bayerische Kost. Nein, auch die Sprache ist gespickt mit Kraftausdrücken. Das böse Wort „A..loch“ kommt des Öfteren vor und überhaupt wird allgemein geflucht, was das Zeug hält.
„Packens den Preissen bei der Gurgel und drahns earm as Gnack ab. Und mia san uns ja einig, dass ein zurgnöpfter Dipflscheisser am Disch gnur is..“
Chef des Bierbrauer Kartells zum Stifter
Es war wohl damals so. Was wird denn außer Kraftausdrücken sonst noch geboten? Glaubhafte Bösewichte, Gewalt (auch gegen Frauen), Blut, mal mehr, mal weniger, auch dank Schlagringeinsatz. Angedeutet sehen wir eine Abtreibung, die zugehörige Engelmacherin tritt auf den Plan, darf ihr Werk aber nicht vollenden. (Exkurs: Engelmacherin: Eine Frau, die illegal Abtreibungen durchführt. Quelle: Wiktionary). Weiter erleben wir gelebte Vorurteile gegenüber Ausländern (die wilden menschenfressenden Kannibalen), Probleme im Umgang mit Homosexualität im 19. Jahrhundert, unterbezahltes Dienstleistungsgewerbe, die Einführung neuer Technologien (eine Filmvorführung mittels Cinematograph, bei welcher auch der Herr Prinzregent beiwohnt) sowie irgendwie verklausuliert die ersten Arbeiterproteste und das Entstehen einer Gewerkschaft, die ein festes Gehalt (drei Mark am Tag!) einfordert.
Fast hätte ich noch eine weitere bayerische Kultfigur verschwiegen: Eisi Gulp verkörpert hier Kommissar Eder, der versucht Licht ins Dunkel zu bringen und den einen oder anderen Mord gewissenhaft aufzuklären. Ebenfalls wird das auch Nicht-Bayern bekannte „Bayerische Reinheitsgebot“ zelebriert, halt, was schreibe ich. Nicht zelebriert, sondern mehrstimmig im Kanon durch die Mitglieder des Bierbrauer-Kartells vorgetragen, und zwar mit einer Ernsthaftigkeit wie sonst die alten Weiber in der Kirche den Rosenkranz herunterbeten.
„Ganz besonders wollen wir, dass forthin allenthalben in unseren Städten und Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.”
Neuhochdeutsche Textfassung von 1516.
Verstöße dagegen wurden selbstverständlich streng geahndet und unser Freund Stifter wird dies noch am eigenen Leib erfahren! Insgesamt war ich sehr angetan von der durchweg gut gecasteten Besetzung. Sei es Maximilian Brückner als schmieriger Großbrauer, Brigitte Hobmaier als durchtriebene Anstandsdame mit dem Herz am rechten Fleck, Eisi Gulp als rechtschaffender Kriminaler oder Misel Maticevic als ehrgeiziger Emporkömmling, um nur einige Beispiele zu nennen: den Rollen wurde Leben eingehaucht und sie wurden sehr glaubhaft mehrdimensional mit Ecken und Kanten dargestellt.
Zudem gefiel mir die düstere, dreckige Atmosphäre, die die Zeit um die Jahrhundertwende passend widerspiegelt: nach außen hin soll alles toll und sauber wirken, doch hinter den Kulissen kann man die bittere Armut in den Münchner Vororten erkennen, wie sie eben zur Zeit der industriellen Revolution herrschte. Rau ging es zu und rau ist auch der Alltag aller Protagonisten. Auch wenn ich den internationalen Titel „Oktoberfest: Blood and Beer“ ziemlich dämlich, weil reißerisch, finde, repräsentiert er dennoch den Inhalt.
Auch die musikalische Untermalung passt zur Serie und ist oft so düster wie die verwendeten Kulissen, wobei mir unter anderem der Song „Nothing left to hide“ der Gruppe NineOnOne positiv auffiel. Ebenfalls sehr interessant, vor allem textlich gesehen, ist „Der Untergang“ des Interpreten Budzillus. Hier handelt es sich um einen älteren Track, der sicher etwas ungewöhnlich anmutet, aber auch wirklich gut in diese Serie passt. Auch Leonard Cohens „You want it darker“ ist zu finden. Am Ende der ersten Staffel gibt es einen passenden Cliffhanger, der uns die neu gegründete Allianz gegen das Kartell zeigt und einen Curt, der zu neuem Mut gefunden hat und sich selbstbewusst zum Kampf stellt.
Schaltet ein, die sechs Folgen sind wirklich sehenswert und leider zu schnell vorbei.
Zu guter Letzt noch eine Volksweisheit für Euch:
„Der Teufel scheisst immer auf den größten Haufen“ (Volksmund)
Bilder: Das Erste
Ich bin zwar kein Freund des Oktoberfestes, aber nach diesem Text muß ich doch wohl tatsächlich mal einen Blick in die Serie riskieren. :-)
Hallo Patrick, das freut mich. Teile deine eigene Meinung zur Serie gern mit uns, sobald du diese gefestigt hast.
Sodele…mal eben die die 6 Folgen weggefrühstückt und ich kann dir nur uneingeschränkt zustimmen. Eine rundum stimmige, stimmungsvolle und gelungene Produktion.
Historischer Inhalt, modern produziert bzw. inszeniert.
Ich fühlte mich diesbezüglich übrigens spontan an die Serie „The Knick“ erinnert, was in diesem Fall absolut positiv zu verstehen ist.
Das war wirklich gute Unterhaltung und ich würde mich freuen, wenn man die Chance nutzen würde und an das wegweisende Ende der ersten Staffel anknüpfen würde. Bitte mehr davon, sofern das Niveau gehalten werden kann.
Einwandfrei! Falls du, wie ich, Maximilian Brückner als Schauspieler (Stifter) mittlerweile etwas „lieb gewonnen“ hast, kann ich dir auch „Hindafing“ ans Herz legen. Hier legt er sich so richtig ins Zeug und zeigt was in ihm steckt, andere bekannte Gesichter aus „Oktoberfest 1900“ wirst du hier ja ebenso finden!
„Hindafing“ habe ich bereits gesehen. Fand ich ebenfalls ausgesprochen unterhaltsam und amüsant. :-)
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