Einer flog übers Kuckucksnest – kennt diesen kleinen Kultfilm aus den 1970er Jahren noch zufällig jemand? Jack Nicholson brilliert darin mit seiner Darstellung des verrückten (oder nicht verrückten?) McMurphy, der in der Nervenheilanstalt mit der sehr „besonderen“ Schwester Mildred Ratched, damals genial verkörpert durch Louise Fletcher, aneinandergerät. Beide erschweren sich in diesem Film gut 130 Minuten lang ihr Dasein so gut es eben jeweils möglich ist. Mildred Ratched wurde nun mit einer eigenen Serie geehrt. Nennt man das nun „Fan-Fiction“? Ganz egal, seit dem 18.09. können alle Netflix-Nutzer die achtteilige Serie „Ratched“ streamen und glaubt mir: Es lohnt sich, schaltet ein! Michael hatte bereits einen Beitrag hierzu verfasst, der auch den aktuellen Trailer zeigt und einen weiteren, der ein wenig die Story dahinter beleuchtet.
Ryan Murphy, vielen von uns bekannt als derjenige, der unter anderem hinter der wohlbekannten und sehr erfolgreichen Serie „American Horror Story“ steckt, zeigt wieder einmal, dass er ein Händchen für gute Geschichten hat! Wir erleben Mildreds Entwicklung von einer noch jungen, recht unbedarften Waisen, die über Umwege (Krieg, Lazaretteinsatz) letztlich im Jahre 1947 in Kalifornien in einem bekannten „Irrenhaus“ auftaucht, durch Charme und List eine Anstellung als Schwester erhält und damit den Grundstein für ihre berufliche Karriere legt.
Mildred wird wirklich glaubhaft verkörpert durch Sarah Paulson, die wir Serienfans sicherlich aus ihren American Horror Story Auftritten kennen. Nachdem ich nicht zu viel verraten möchte, was der Zuschauer durch viele Rückblenden noch so alles über Mildred, ihre Kindheit und viele „Zaungäste“, die Anteil daran hatten, wie sich ihr Charakter entwickelt hat, erfahren wird, fasse ich mich kurz, um relativ spoilerarm zu bleiben: Mildred möchte einfach so vielen Menschen wie möglich helfen, auf ihre ganz eigene, unnachahmliche Art. Sie beginnt ihren Dienst in der Klinik unter der Führung des Doktor Richard Hanover (Jon Jon Briones), der natürlich auch einiges im Leben schon verbockt hat, bevor er letztlich unter zwielichtigen Umständen mit der Klinikleitung belohnt wurde.
„Rette ein Leben und du bist ein Held. Rette 100 Leben und du bist Krankenschwester!“ (Mildred zu Doc Hanover)
Mildreds Gegenspielerin ist die resolute Oberschwester Betsy Bucket (Judy Davis), die ein eisernes Regiment führt und nicht gewillt ist, eine Nebenbuhlerin zu akzeptieren. Entsprechend gibt es hitzige Wortgefechte, Rangeleien um die Machtposition innerhalb der Klinik, alles wirklich wunderbar in Szene gesetzt. Es macht Laune, den mit Spitzen und Pointen gespickten, wohlfeil argumentierten und treffend angebrachten Dialogen der beiden zu lauschen. Wer von beiden das berühmte letzte Wort hat, wechselt von Szene zu Szene und wie bei einem Boxkampf gibt es hierbei Punktsiege, aber auch Patt-Situationen. Beide nutzen jede Chance, die andere zu brüskieren, zu blamieren und deren Glaubwürdigkeit herabzusetzen. Dafür scheint beiden jedes Mittel recht, wobei Mildred auch bei zahlenden Patienten nicht unbedingt ein Blatt vor den wunderbar-rot-eingefärbten Mund nimmt:
„Ich weigere mich das zu tragen! Dabei wird mein Hinterteil fremden Blicken ausgesetzt!“ – „Jeder Blick auf Ihr Hinterteil, Mr. Bronley, wird nur flüchtig sein, weil selbst ein vollkommen abgehärteter Beobachter sofort seine Augen abwenden wird!“
(Mildred zu Patient Mr. Bronley)
Nicht fehlen darf bei der Aufzählung der Hauptcharaktere Mildreds Bruder Edmond (Finn Wittrock). Dieser hat wohl so einige Menschenleben auf seinem Gewissen und Doktor Hanover samt Personal sollen nun versuchen aufzuklären, ob Wahnsinn zu Edmonds Taten führte oder eiskalte Berechnung und eben Rache sein Mordmotiv war. Während der Episoden lernen wir Edmond näher kennen und auch seine Kindheit findet Erwähnung. Er macht eine Wandlung durch und konnte gegen Ende der Serie meine Sympathie für sich gewinnen. Er hat durchaus vernünftige Ansichten, wie folgendes Zitat beweist:
„Wer das Blut Unschuldiger vergießt, muss irgendwann dafür bezahlen.“ (Edmond zu Schwester Dolly über das Schlachten eines Hahns)
Als Fan der eingangs erwähnten „American Horror Story“ war ich natürlich gespannt, ob eine auf dem fiktiven Leben einer Krankenschwester basierende Serie trotz Beteiligung von Ryan Murphy mich ähnlich begeistern kann. Zusammenfassend kann ich sagen: Ich wurde nicht enttäuscht. Man kann von Sarah Paulsen halten, was man will und klar taucht sie in den AHS -Welten stets irgendwie als Main-Charakter auf und natürlich gibt es Zuschauer, die sie deswegen „nicht mehr sehen können“. Ich habe mich anfangs mit dem ähnlichen Problem auseinandergesetzt und wollte sie hier nicht als Hauptdarstellerin sehen, gab ihr aber eine Chance. Sie spielt die Mildred Ratched mit Brillanz, Hingabe, Authentizität und ich nahm ihr diese Rolle ab. Ja, ich würde fast sagen wollen: wenn es je eine Mildred Ratched gab, dann muss Sarah Paulsen ihre Reinkarnation sein. Ok, genug des Lobes für nur eine Schauspielerin.
Die Serie ist bunt, richtig bunt. Beginnend bei den krass roten Lippenstiften über die Autolacke, die Kleidung, vor allem der Frauen, bis zum Grün von Wiesen und Wäldern: alle Farben sind stark gesättigt. Zusammen mit der Zeit, den 1950er Jahren, in denen die Serie spielt, passt dies auch wirklich gut. Wenn diese herrlichen Oldtimer von oben gefilmt durch die stark eingefärbten prächtigen Naturkulissen rollen, freut sich das Zuschauerauge und -herz, zumindest meines.
Auch die Charakterentwicklung mitzuerleben, macht dem Beobachter von Folge zu Folge mehr Spaß. Ich darf behaupten, dass diese Serie zwar anfangs nur langsam Fahrt aufnimmt, denjenigen aber belohnt, der bis zum Ende durchhält. Es finden sich Allianzen, die vorher gar undenkbar schienen – Geld erhält eben die Freundschaft bzw. schafft diese erst. Ohne weiterhin zu viel spoilern zu wollen, schreibe ich noch in Stichworten, was die Serie so bietet: bissigen Sarkasmus, manipulative Rhetorik, multiple Persönlichkeiten, eine Prise Bonnie und Clyde, Lobotomien, verschrobene Charaktere, Schauspieler, die sichtbar Spaß an ihrer Rolle hatten, etwas Blut und Gore.
Des Weiteren erleben wir einige wenige, gut platzierte Schock-Effekte sowie eine ziemlich spannende Story mit plötzlichen Wendungen und natürlich: einen schönen Cliffhanger bzw. Ausblick auf eine kommende zweite Staffel. Fast hätte ich es vergessen: auch der weitere Cast überrascht mit großartigen Darstellern, wie einem längst überfälligen Auftritt der (für mich) leider fast vergessenen Sharon Stone oder Cynthia Nixon, die man noch aus „Sex and the City“ bestens kennen dürfte oder die als „Honey Bunny“ unvergessene Amanda Plummer als versoffene und durchgeknallte Motel-Wirtin. Schaltet ein, ihr werdet es nicht bereuen! Die acht Episoden eignen sich auch perfekt für ein Binge-Watching-Wochenende!
Schließen möchte ich diese Review mit einem passenden Zitat von Betsy Bucket:
„Ich will ganz offen zu dir sein. Ich hab nun mal eine Schwäche für zapplige, verblühte, alkoholsüchtige Hupfdohlen wie dich.
Deshalb hab ich dir einen Job als Freiwillige hier gegeben.“
Oberschwester Betsy Bucket zu ihrer Freundin Louise
Bilder: Netflix
Kommentiere
Trackbacks