Wenn ein Kurzfilm zur Serie wird, stellt sich oft die Frage, ob das denn wirklich inhaltlich auf Strecke trägt? „Scavengers Reign“ weiß diese Zweifel nicht nur aus dem Weg zu räumen, das HBO Max Original entpuppt sich einfach mal als eine der besten Serien des Jahres. In diesem spoilerfreien Staffelreview und Serientipp möchte ich euch aufzeigen, wieso auch ihr „Scavengers Reign“ unbedingt anschauen solltet.
2016 haben Joseph Bennett und Charles Huettner den Kurzfilm „Scavengers“ veröffentlicht (den Achtminüter könnt ihr euch wie den Trailer zur Serie hier anschauen). Bis November wurden die insgesamt zwölf jeweils etwas über 20 Minuten langen Episoden auf der Streamingplattform veröffentlicht. Ein regulärer Starttermin für Deutschland steht leider noch immer aus, hier sollte unbedingt ein Sender/Anbieter zuschlagen!
Trumpfkarte Fantasie
Das absolute USP der Serie „Scavengers Reign“ ist die wundervolle und vor allem fantasievolle Darstellung eines Alien-Planeten. Einzelne Crew-Mitglieder des Frachtraumschiffes „Demeter 227“ sind mittels Rettungskapseln ungeplanter Weise auf dem Planeten Vesta gestrandet. Niemand von den verstreuten Charakteren weiß, ob es noch weitere Überlebende gibt und wie es auf dem bzw. um das Raumschiff bestellt ist. Wird man für immer auf dem Planeten bleiben und sich anpassen müssen, oder gibt es Hoffnung auf Rettung?
„This place is like a puzzle. Nothing makes sense in the way we know it.“ (Azi)
Dabei wird direkt ab Folge Eins deutlich, wie viel Arbeit man in die Gestaltung des Alien-Planeten gesteckt hat. Dabei sehen die Tiere, Pflanzen und anderweitigen Lebewesen nicht nur originell aus, sie bieten auch ganz andere Lebens- und vor allem Überlebensweisen als unsereins bekannt ist. Gerade hier weiß „Scavengers Reign“ über das übliche „Aliens sehen anders aus“-Kreativitätslimit empor zu steigen. Man bedient sich zwar gewisser irdischer Anknüpfungspunkte, damit die Abläufe nachvollziehbar bleiben, wirkliche Grenzen scheint es ansonsten jedoch nicht zu geben. Alleine die Szene, die sich um das hier folgend eingebundene Bild abgespielt hat, ist einfach phänomenal gewesen.
Besonders schön finde ich, dass die Figuren mit der Zeit lernen, Gebrauch von einigen sehr skurrilen Alien-Sorten zu machen. Da werden Tierrochen als Atemmasken genutzt, sich aufblasende „Ballontiere“ als Flughilfen oder wieder andere Kreaturen als eine Art Knicklichter für die Dunkelheit. In diesen Momenten weiß „Scavengers Reign“ besonders zu punkten. Dabei fühlt es sich jedoch nie wie eine plumpe Aneinanderreihung an Gimmicks und Ideen an, diese Aspekte verfolgen stets einen Nutzen und sind homogen in die Handlung eingebunden.
Erfreulicherweise wird uns ordentlich Abwechslung geboten, so dass es eigentlich jede Folge etwas Neues für uns (und die Figuren) zu entdecken gibt, ohne jedoch, gesehene Kreaturen komplett zu vergessen. Andere Produktionen strotzen ja gerne Mal in Folge Eins mit Fantasie, um dann einfach nur alles zu wiederholen, oder zeigen ein Füllhorn auf, das hinten raus aber keine Relevanz besitzt oder nie mehr nochmals auftaucht. Hier schafft „Scavengers Reign“ eine gelungene Balance. Die Serie ist aber nicht nur das.
Es wird noch mehr geboten
Man könnte sagen: Ich kam für die Fantasie und blieb wegen… so vielem mehr! Zunächst sei angemerkt, dass auch die Gestaltung in punkto Bildsprache und Schnitt kreativ ausfallen. Es gibt einige wundervoll angelegte Shots zu sehen, die mit Weite und Positionierung spielen. Übergänge zwischen Szenen sind vor allem bei der Figur Kamen nicht nur kreativ, sondern teilweise gar interpretationsschwer in ihrer bildlichen Darstellung gehalten (das Fallen!). Das fällt vor allem bei Wechseln zwischen Erzählebenen auf. Nicht nur wird zwischen einzelnen Überlebenden hin und her geschaltet, was für Abwechslung und Dynamik sorgt, es wird auch mit Rückblenden gearbeitet. Über die verschaltete Erzählweise bekommen wir nach und nach aufgezeigt, wie es zum Absturz kam, aber vor allem auch, welche Rolle die einzelnen Personen zuvor gespielt haben.
Zwischen all den Bewunderungsmomenten der exotischen Flora und Fauna gibt es aber auch zunehmend mehr Spannung zu spüren. Was als fantasievolle Serie für Jedermensch beginnt, wird dann doch recht schnell eine reine Erwachsenen-Angelegenheit. „Scavengers Reign“ zeigt sich so ruchlos wie seine Figuren, die letztlich alle – seien es die Menschen oder die Aliens – um das Überleben von sich oder ihrer Art kämpfen. Dazu gestellt sich auch eine gewaltige Portion Misstrauen, die nicht nur die fiktiven Charaktere sondern auch wir Zuschauende bei jedem neuen Kontakt verspüren. Vor allem, nachdem man herausfinden muss, dass selbst die kleinen, zunächst süß erscheinenden Alien-Lebewesen teilweise richtig finster sein können.
„Scavengers Reign“ weiß darüber hinaus aber auch noch, Gedanken anzuregen. Zentral wird vor allem über das Verhältnis von Mensch und Natur auch offen über die Dialoge der Figuren nachgedacht. Wie die Figur Sam sollten wir wohl alle auch in unserer Realität mal innehalten, um die Wunder der irdischen Natur wahrzunehmen und vor allem schätzen zu können. Dabei ergeben sich auch vereinzelte Anknüpfungspunkte, was den menschgemachten Klimawandel anbelangt, wobei die Serie sich diesbezüglich noch zurückhält. Dafür gibt es auch einiges zum Zusammenleben von Menschheit und Maschinen im Zeitalter künstlicher Intelligenz zu sehen. Was ist wirklich menschlich? Und was ist Menschlichkeit? Welche Werte machen Menschen aus und ist Moral wirklich noch präsent, wenn es ums nackte Überleben geht? Die Serie bricht ihre Figuren auf ihren Kern zurecht und zeigt uns, dass auch Menschen nur Tiere sind, die ihre eigenen Verhaltensweisen mit sich bringen. Dabei bleibt es trotz der vielen Fantasie-Bewunderung aber stets nachvollziehbar und wird niemals zu abstrakt in der Darstellung.
Hervorheben möchte ich an dieser Stelle auch den richtig guten Voice Cast. Roboter Levi wird zum Beispiel von Alia Shawkat („Search Party“, „Arrested Development“) gesprochen, des Weiteren verleihen Leute wie Sunita Mani („GLOW“), Wunmi Mosaku („Lovecract Country“), Pollyanna McIntosh, Bob Stephenson („Die Professorin“) sowie Sepideh Moafi („The L Word: Generation Q“) Figuren ihre Stimmen. Die Wirkung der Synchronisation wird auch durch authentische Animationen der Gesichtsausdrücke sowie authentischer Verhaltensweise im Drehbuch allgemein unterstützt.
Zwei kleine Punkte habe ich dann allerdings doch noch zu kritisieren. Zum einen ist mir negativ aufgefallen, dass an einigen Stellen in der Animation der Charaktere ein paar Frames zu wenig bemüht wurden. Das wirkte ruckelig und hat mich teilweise enorm genervt, vor allem, da andere Animationen wunderbar flüssig ausgesehen haben. Allgemein muss man sich gerade an den Darstellungsstil der Menschen etwas gewöhnen, aber das fällt hinten raus nicht mehr wirklich auf. Zum anderen war das Timing einzelner Abläufe zumindest mal fragwürdig. Damit meine ich keine Längen, die gab es – vermutlich auch durch die angenehm kurze Spielzeit der Episoden – eigentlich nie wirklich. Aber inhaltlich haben einige Abfolgen meiner Meinung nach nicht ganz gepasst, was die dargestellte Länge bzw. Abfolge anbelangt. Einiges, das zunächst als kurz erschien, wurde dann doch länger dargestellt, anderes genau umgekehrt, und letztlich haben sich viele Dinge rein zufällig in einem eher utopischen Timing getroffen. Aber gut, Zufall, am I right?! Abgesehen von diesen Kleinigkeiten empfand ich „Scavengers Reign“ jedoch als rundum gelungen.
Zunächst wollte ich an dieser Stelle so etwas wie „Wer mal etwas Anderes im Serien-Einerlei sucht, sollte ‚Scavengers Reign‘ anschauen“ schreiben, aber das wird der Großartigkeit dieser Serie nicht gerecht. Vielmehr müsste es heißen: Wer eine gute Serie schauen möchte, sollte „Scavengers Reign“ anschauen. Nein – ALLE sollten „Scavengers Reign“ anschauen. Ja, auch Leute, die mit Animationsserien, Science-Fiction oder anderen Einzelaspekten der Produktion sonst weniger am Hut haben. Gebt dieser Serie eine Chance, vermutlich wird sie euch bereits nach einer Folge in ihren Bann gezogen haben wie ein telekinetisches Alienwesen. „Scavengers Reign“ schafft es, so viele positive Dinge zusammen zu bringen und eine einzigartige Serienerfahrung zu bieten, die sogar darüber hinaus zum Nachdenken anregt. Man kann hier wirklich auf erstaunlich vielen Ebenen auf sehr hohem Niveau punkten.
Vor allem die fantasievolle Darstellung einer durchdachten Alienwelt ist phänomenal und geht über das hinaus, das vor allem Hollywood uns seit Jahrzehnten wiederholt auftischt. Irgendwo hatte ich gelesen, dass „Scavengers Reign“ trotz der großen HBO-Verbindung schafft, wie eine Independent-Produktion zu wirken. Dem kann ich zustimmen. Damit ist nicht etwa der hier und da fehlende Frame in einer ruckeligen Animationsbewegung gemeint, sondern die inhaltliche Kreativität und das Wagnis, etwas komplett Neues zu schaffen, das man so noch nicht gesehen hat. „Scavengers Reign“ ist für mich persönlich tatsächlich eine der besten Serien dieses Jahres gewesen. Das ist Kunst mit Inhalt.
Solltet ihr jetzt mehr zur Entstehung der Serie bzw. der erfolgten Adaption vom Kurzfilm auf das Langformat erfahren wollen, kann ich euch dieses Interview mit Beteiligten der Show empfehlen, in dem ausführlich über den Kurzfilm-Pitch sowie dem Entstehungsprozess zur Serien-Adaption von Script und Animation gesprochen wird. Und wer weiß – vielleicht gibt es ja in Zukunft doch noch mehr von „Scavengers Reign“ zu sehen?
2. Staffel von „Scavengers Reign“?
Ursprünglich war „Scavengers Reign“ vielerorts als Miniserie beschrieben, das Ende hat inhaltlich aber durchaus eine Tür offengelassen, was eine Fortsetzung anbelangt. Noch ist allerdings nicht bekannt, ob HBO Max die Serie fortsetzen oder absetzen möchte. Das Team hat jedenfalls bekanntgegeben, sogar noch für zwei weitere Staffeln eine Grundgeschichte ausgelegt zu haben. Ich würde mich darüber freuen, weiter in die fantasievolle Welt von Vesta (oder gar darüber hinaus) eintauchen zu können, und bin mir sicher, dass das Team hinter der Produktion noch viele weitere kreative Ideen in petto hat.
Bilder: HBO Max
Danke für den Tipp, sieht sehr spannend aus!
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