Seit dem 17. Januar ist die zweite Staffel des Netflix-Originals „Sex Education“ verfügbar. Und sie beginnt, wie die erste endete: Wir sehen Otis dabei zu, wie er masturbiert. Ist anfangs wirklich amüsant, doch leider verliert die Message nach den ersten 5 Szenen seinen Reiz und ich muss ehrlich gestehen, mich hat es ein wenig genervt. Doch glücklicherweise hat sich diese leichte Resignation gleich wieder gewandelt, als Otis im Auto von Jean überrascht wird. Diese Anfangsszene kann sinnbildlich für die zweite Staffel von „Sex Education“ betrachtet werden. Denn jedes Mal, wenn ich begann, eine Stelle nicht mehr so interessant zu finden, hat es die Serie geschafft, mich kurz darauf wieder abzuholen und zu begeistern.
Mein allgemeiner Eindruck
Ich war bereits ein großer Fan der ersten Staffel „Sex Education“ und demnach sehr gespannt auf die zweite. Und meine Erwartungen wurden keinesfalls enttäuscht, im Gegenteil, sie wurden sogar noch übertroffen. Neben den Problemen der Teenager wird den Zuschauern und Zuschauerinnen auch die Geschichte des Sexlebens der Erwachsenen gezeigt. Zudem werden auch sehr ernste Themen behandelt, wie Identitätskrisen, sexuelle Verwirrung, sexuelle Belästigung, sexuell übertragbare Krankheiten, sowie Drogenmissbrauch und die Folgen davon. „Sex Education“ möchte bewusst lustig sein, aber bleibt in den entscheidenden Momenten auch ernst. Meines Erachtens nach ist diese Gratwanderung perfekt gelungen. Zudem kann man sich als Zuschauer oder Zuschauerin sehr gut in die einzelnen Charaktere einfühlen und ihre Sorgen nachvollziehen.
Ein weiterer Punkt, der mir bei „Sex Education“ sehr gefällt, ist, dass die Charaktere auch öfter einfach mal die gleichen Outfits tragen. So sieht man Otis ständig in derselben Jacke und Ola häufig in der gleichen Latzhose. In vielen anderen Serien haben die Charaktere einen schier unendlichen Vorrat an Klamotten im Kleiderschrank, was doch etwas unwahrscheinlich von Zeit zu Zeit wirkt, wenn es auch schön anzusehen ist. In „Sex Education“ wird jedoch bewusst darauf geachtet, dass die Charaktere normal wirken und somit haben sie, wie die meisten Menschen auch, einfach keine zehn Jacken oder Hosen im Schrank.
Die Charakterentwicklungen
In der zweiten Staffel rücken auch andere Figuren noch weiter in den Fokus der Story. So lernen wir mehr über Adam, Ola und Lily kennen, aber auch über die Erwachsenen, wie die Lehrer Miss Sands und Mister Hendricks oder Maureen Groff. Ich finde die Randgeschichten ebenso interessant wie die Storyline um Otis und Maeve.
Otis
Am Witzigsten finde ich die zu Beginn der Staffel gezeigte Charakterentwicklung von Otis. Er ist in der ersten Staffel eher ein schüchterner, leicht verkorkster und non-sexueller Teenager, während er zum Ende der Staffel aufzublühen beginnt. Zu Beginn der zweiten Staffel hat Otis dann mit Hormonen zu kämpfen und entdeckt erstmals seine Sexualität. Für mich der witzige Punkt an der Sache: Otis hat in der kompletten ersten Staffel Tipps über Sex gegeben, hatte aber selbst eigentlich das größte Problem. Nun muss sich das „Sex Kid“ der Moordale High, das die Sexprobleme aller löst, erstmals mit seinen eigenen Problemen beschäftigen.
„Letzte Nacht habe ich einen Käse angesehen und eine Erektion bekommen.“ (Otis)
Zudem finde ich die Beziehung zwischen Otis und seinem Vater sehr interessant. Otis hat große Angst davor, wie sein Vater zu werden und merkt, dass er dabei auch seine Mutter verletzt, da sie all seine Launen alleine tragen muss. Scheidungskinder haben es nicht immer leicht und müssen tatsächlich viel mehr ertragen, selbst wenn die Eltern sich noch relativ gut verstehen. Auch Alleinerziehende haben es nicht immer einfach und ich finde schön, dass dieser Aspekt nicht zu überzeichnet und tatsächlich relativ realistisch dargestellt wird.
Maureen
Für mich persönlich sind jedoch die weiblichen Charaktere die stärksten der zweiten Staffel: Ola, Lily, Aimee, Jean und Maureen. Ein graues Mäuschen und ein in Staffel Eins von „Sex Education“ eher unscheinbarer Charakter, wird plötzlich in den Mittelpunkt gerückt und gilt sinnbildlich für eine Generation: Maureen Groff. Ob wir es wahr haben wollen oder nicht, ja selbst unsere Eltern haben noch Sex, auch nachdem wir geboren wurden. Klar möchte man davon als Teenager so absolut gar nichts wissen, doch gerade dieser Aspekt führt dazu, dass Sexualität mit voranschreitendem Alter immer mehr totgeschwiegen wird. Deswegen finde ich es sehr erfrischend, wie aus ihr eine selbstbewusste Frau wird, die aus dem Hausfrauen-Alltag ausbricht. Jean hilft ihr, ihre Sexualität wiederzuentdecken und zwischen den beiden entsteht ein enges Band.
Ola und Lily
Auch Ola und Lily sind für mich zwei Figuren mit einer tollen Entwicklung. Lily ist zu Beginn doch eher zögerlich, was ihre neue Sexualität angeht, denn verständlicherweise ist sie sehr verwirrt. Ich glaube jeder Jugendliche, der diese Reise durchgestanden hat, kann Lily und ihre Probleme sehr gut nachvollziehen. Ist es einfach nur eine Phase? Experimentiert man und stellt sich dann doch heraus, dass es einem nicht gefällt? Und was ist, wenn es einem doch gefällt? All diese Fragen gehen Lily wahrscheinlich durch den Kopf. Ola hingegen kann sich eher damit abfinden, dass sie pansexuell ist. Sie weiß, wer sie ist, und hat dieses auch schon akzeptiert, nun kann sie das Kind beim Namen nennen. Am Beispiel der Beiden wird meines Erachtens gut aufgeführt, wie unterschiedlich junge Menschen damit klar kommen, ihre Sexualität zu finden und zu akzeptieren.
Adam
Ebenso eine tolle Entwicklung macht auch Adam in dieser Hinsicht durch. Er ist sich seiner Sexualität ebenfalls nicht vollends bewusst und versucht sie sogar teilweise zu verleugnen, ja schämt sich sogar für sie. Es kostet ihn enorm viel Kraft zu Eric, aber vor allem zu sich selbst zu stehen. Auch wenn dieser Satz sehr simpel und einfach ist, so gehört er für mich doch zu den schönsten Zitaten aus der zweiten Staffel. Er symbolisiert die weite Reise, die Adam bis zu diesem Punkt durchgemacht hat. Selbst, wenn es nur eine kleine Geste ist, die eigentlich nicht so schwer fallen sollte, kostet es ihn all seinen Mut. Mich persönlich hat diese Szene wahnsinnig berührt und ich konnte mit den „Awwws“ und dem Grinsen gar nicht mehr aufhören.
„Ich möchte deine Hand halten.“ (Adam)
Ein ebenfalls sehr süßer Moment und auch einer meiner absolut liebsten der zweiten Staffel, ist zwischen Adam und Ola. Die Beiden arbeiten zu Beginn gemeinsam in dem kleinen Laden und verbringen so Zeit miteinander. Adam beginnt Ola ans Herz zu wachsen und als er gefeuert wird, setzt sie sich soweit für ihn ein, dass sie sogar ihren eigenen Job riskiert. Ola ist für mich wie ein guter Geist und sieht tatsächlich in jedem nur das Beste.
„Du bist mein Freund. Ich liebe dich wie einen Freund.“ (Ola)
Aimee
Die aber beste Story in der ganzen Staffel hat Aimee für mich. Auch wenn ihr ein traumatisches Erlebnis widerfährt, behält sie trotzdem irgendwie ihre positive Art bei, oder versucht dies jedenfalls. Zudem zeigt ihre Reaktion auf das Ereignis im Bus, wie die Gesellschaft uns sexuelle Belästigung lehrt. Denn leider Gottes ist es meiner Meinung nach immer noch nicht in allen Köpfen angekommen, dass es sich hierbei tatsächlich nicht um eine Kleinigkeit, sondern eine verheerende Straftat handelt, die für das Opfer folgenschwer enden kann. Und hierbei meine ich nicht eine Vergewaltigung, sondern die psychischen Folgen. Auch Aimee leidet unter diesen und hat gar Angst, sich überhaupt wieder von ihrem Freund anfassen zu lassen, selbst eine einfache Umarmung ist ihr zu viel. Zudem ist sie so traumatisiert, dass sie lieber kilometerweit zur Schule läuft, als erneut den Bus zu nehmen. Aimee möchte zunächst auch gar nicht erst zur Polizei gehen, da sie der Meinung ist, es sei keine große Sache. Zudem entschuldigt sie sich beim Polizisten, ihnen solche Umstände zu bereiten. Auch wenn sie den Mann im Bus angelächelt hat, ist es, wie Maeve ihr und dem Polizisten auch zu verstehen gibt, nicht ihre Schuld. Dieses Konstrukt der Frau als Schuldige in einer solchen Situation kommt, leider doch häufiger vor, als man denkt. Ich finde es stark, wie Maeve auf diesen Aspekt eingeht und auch, wie sehr sie Aimee in dieser Sache unterstützt.
Diese Szene zeigt sehr gut, dass es nicht nur Aimee so geht. Sie war für mich die wohl stärkste Szene der ganzen Staffel, wenn nicht sogar aller beider Staffeln. Zwei Drittel aller jungen Frauen erleben sexuelle Belästigung, bevor sie 21 Jahre alt sind. Diese Aussage hat mich sehr geschockt. Bis mir klar wurde, dass auch ich das schon erlebt habe und tatsächlich mehrere Leute kenne, denen es ebenso erging. Es ist wirklich traurig, wie normal das zu sein scheint. Deswegen finde ich die Szene so wichtig und gut gewählt. Ich hoffe, dass so gerade dem männlichen jungen Publikum vor Augen geführt wird, was ihr Verhalten für Folgen haben kann und sie somit für dieses Thema sensibilisiert werden und hoffentlich eine bessere Generation an jungen Männern heranwächst. Natürlich möchte ich nicht alle Männer über einen Kamm scheren, es gibt auch anständige. Die Zahlen zeigen aber leider, dass es auch schwarze Schafe gibt. Aber ich finde es sehr wichtig, dass ein solches Thema angesprochen wird, denn auch junge Mädchen haben das Recht auf eine unbeschwerte Jugend ohne Angst vor sexuellen Belästigungen. „Sex Education“ setzt sich ebenfalls nicht nur in der Serie mit diesem Thema auseinander, sondern hat in dem Zuge auch ein Gedicht veröffentlicht, welches mich ebenfalls sehr berührt hat.
Fazit zur zweiten Staffel
Alles in allem kann ich nur Gutes über diese Staffel sagen. Ich kenne keine andere Serie, die Diversität so groß schreibt, wie „Sex Education“. Heterosexuelle, homosexuelle, bisexuelle, pansexuelle und asexuelle Charaktere, dazu dann noch Charaktere aus verschiedenen sozialen Milieus, unterschiedlichen ethnischen Hintergrunds, sowie ein Charakter mit Behinderung. Und niemand wird anders behandelt, als ein anderer Charakter. Kein Charakter hat eine sexuelle Neigung, weil es quotenmäßig doch immer einen Schwulen geben muss. Nein, bei „Sex Education“ ist das alles einfach stinknormal. Und gerade das ist das gewisse Etwas, das die Serie ausmacht. Die Message dahinter: Egal, wer ihr seid, woher ihr kommt, wie ihr ausseht oder wen ihr liebt: ihr seid normal und es ist okay so, wie ihr seid.
Die Reise zu sich selbst ist nie einfach und „Sex Education“ nimmt uns gleich mit auf mehrere dieser spannenden Reisen. Die Charaktere sind realistisch und mit viel Tiefgang ausgearbeitet, werden wirklich gut von den Schauspielern verkörpert und lassen einen tief in die Handlung eintauchen. Die teils sehr schrägen Probleme der Schüler lassen einen schmunzeln und Otis Tollpatschigkeit bringt einen doch auch gerne mal zum Lachen. Die zweite Staffel von „Sex Education“ ist ein Karussell der Emotionen, gewürzt mit einer Brise Aufklärungsunterricht und Lebensweisheit. Eine wunderbare Produktion und meiner Meinung nach mehr als empfehlenswert.
Bilder: Netflix
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