Der Zug ist abgefahren. Untypischer Weise früher, als planmäßig. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie haben die Programmplaner des US-Senders TNT kurzerhand den Start der Serienadaption von „Snowpiercer“ vorgezogen auf vergangenen Sonntag, den 17. Mai 2020. Vermutlich, um uns alle in der aktuellen Krise etwas wohliger fühlen zu lassen, immerhin könnte es ja NOCH schlimmer sein… Um die Verwirrung komplett zu machen, wird es nächsten Montag, am 25. Mai, direkt die ersten zwei Folgen der neuen Fantasy-Serie zu sehen geben, ehe es im Wochenrhythmus parallel zur US-Ausstrahlung weiter gehen wird. Ich habe mir die Pilotfolge angeschaut und möchte euch meinen Ersteindruck schildern.
Serie zum Bong-Joon-ho-Film zum Buch
Um es direkt zu sagen: Nein, ich habe es leider nicht mehr geschafft, die 2013er Verfilmung zu „Snowpiercer“ anzuschauen, wie ich es im Beitrag zum finalen Trailer der Serie hoffnungsvoll hatte verlauten lassen. Aber die respektierte Inszenierung von „Parasite“-Regisseur Bong-Joon-ho werde ich mit Sicherheit noch nachholen. Zeitnah. Möglichst. Vielleicht schenkt uns Co-AWESOMER Chris ja demnächst mal eine kleine, zusätzlich Einordnung diesbezüglich.
Alles beginnt mit einer Animation. Und einem Wetterumbruch. Ich mag die Tatsache, dass der Episoden-Titel „First, the Weather Changed“ auch die ersten vernehmbaren Worte der Serie darstellt. Der Darstellungsstil scheint eine Anlehnung an die „Snowpiercer“-Graphic Novel (Partnerlink) zu sein. Die ersten Sekunden klingen erschreckend real: Globale Erderwärmung bis zur Umkehrungs-Unmöglichkeit. Fehlt in unserer Welt nur noch eine Maschine, die die Welt „abzukühlen“ vermag. Oder lieber nicht… Eine Serie als Mahnmal.
1.001 Waggons hat der „Snowpiercer“, den vor allem Reiche besteigen sollten. Schüsse, ein Schnitt – willkommen in der hart umkämpften Realität, in der Leute ohne Sitzplatzreservierung möglichst schnell und ellenbogenbetont zusteigen, ohne Rücksicht auf Verluste und obwohl der Komfort schlechter zu sein scheint, als bei der hiesigen Bahn. Der Einstieg (in Serie wie Zug) hat mir schon mal gefallen. Dann wird es leider unübersichtlich. Wer wirft da wen aus dem Zug? Auch will der Wechsel zwischen statischer und wackeliger Handkamera mir nicht immer einbläuen. Aber gut, was hat man in der Postapokalypse schon für eine Wahl?
„This is Snowpiercer. Around and around the earth we circle, we can never stop.“ (Layton)
Das Intro mit ein paar Blaupausen wirkt auf mich auch eher uninspiriert, aber vielleicht entwickelt sich der Charme ja noch über die Staffel hinweg. Im Inneren des Zuges hat man – zumindest im noblen Bereich – aufgrund weißer Verkleidungen und vor allem dem an Lautsprechern prangerndem „W“ (für „Wilford Industries“, nicht „WordPress“) ein kleines „Westworld“-Gefühl. Doch alles wirkt hektischer. Roher. Unmenschlicher. Okay, Letzteres kann ich glaube ich streichen…
Sechs Jahre, neun Monate und 26 Tage später. Draußen sind -119,6 Grad Celsius, „Snowpiercer“ gerade in der Region des früheren Kanada unterwegs. Die damals aufgesprungenen Armen sind unten im hinteren Teil des Zuges, dem „Tail“, gehalten. Wie die Tiere, eng beieinander und gerade auf halbe Ration unlecker aussehendem Nährwärt-Krams gesetzt. Und davon muss jede/r auch noch einen Anteil für den Muskelerhalt von „Strong Boy“ abgeben. Sehr nette kleine Idee, erzählerisch und für den geplanten Aufstand. So einen gab es übrigens bereits in „Jahr 3“ – wir merken, eine neue Zeitrechnung!
Neben diesen originellen Kleinigkeiten erfreue ich mich anfangs vor allem ob des Casts. Nicht nur bekommen wir den von mir sehr geschätzten Steven Ogg (u.a. „The Walking Dead“) zu sehen, sondern auch Mark Margolis, den viele eher unter dem Namen Hector Salamanca kennen („Breaking Bad“ / „Better Call Saul“). Starke Kombo! Das war es dann aber auch an Einleitung. Es geht verdammt schnell los. Wir sollen mit den Aufständigen sympathisieren, vielleicht wäre etwas mehr Vorgeschichte gut gewesen, um das Verhältnis aufzuladen.
Die Reichen an Bord haben ganz andere Probleme. Essen gibt es en masse, genauso aber Neid, geografische Klassen und… eine Leiche. Mal wieder. Layton wird aus dem Tail gezogen, um – zu essen? Nein, nicht ganz. Aber habt ihr den Blick gesehen, mit dem er das Brot angesehen hat? Pure Freude!
Nein, Layton soll den „Mord im Snow-rient Express“ aufzuklären, ist er doch vor Jahr Null Detektiv gewesen. Das könnte noch interessant werden, was Leute im früheren Leben waren, immerhin wurde uns auch offenbart, dass einer der Sicherheitsbeamten nicht nur offenkundig britischer Herkunft ist, sondern auch Fußballspieler war.
„What do coppers and footies have in common? PENALTY KICK!“ (Sicherheitsmann)
Beim Transfer durch den Zug wird erstmal ersichtlich, was für ein gewaltiges Teil der „Snowpiercer“ doch ist. Da gibt es quasi ein Zugsystem innerhalb des Zuges, etliche Erdbeer-Waggons und irgendwie scheint es ein bisschen wie die Arche Noah für Pflanzen zu fungieren. Und offenbar hat Layton erstmals seit Jahren natürliches Sonnenlicht zu sehen bekommen? Mich hat gefreut, dass auch wir Zuschauer einen zumindest kleinen Blick auf die vereiste Außenwelt erhalten haben. Damit sparen SciFi-Serien ja öfters mal aus Budget-Gründen.
Als emotional verbundene Gegenspielerin wird Melanie inszeniert, die „Stimme des Zuges“. Als autoritäre Figur tritt sie neben kantig geschnittener Garderobe auch vor allem dank des zielstrebigen Spieles von Jennifer Connelly auf. Ihr kann ich die Rolle bislang deutlich konsequenter abnehmen als Daveed Diggs, der Andre Layton zunächst etwas wandelhaft verkörpert. Aber gut, das passt vermutlich zu den Umständen.
Ich sagte ja bereits, dass die Geschichte recht schnell in Gang kommt. Die Revolution startet (mit oder trotz einer meiner Meinung nach sehr unsinnigen Rampe?!), kommt aber nicht weit. Entgegen dem Motto „Lieber Arm dran als Arm ab“ wird ein kleines Exempel ausgehandelt, so dass Layton insgeheim Figuren für einen späteren Verlauf des Planes in Position bringen kann. Was wie Schach klingt, wird uns auch visuell als solches gezeigt, hat Melanie doch Setz-Strategien in ihrer Privatkammer hängen. Etwas abgelenkt vom erstaunlich unspektakulären Ausblick aus der Front des Zuges wird dann das offenbart, was ich in dem Moment gehofft hatte: Es gibt gar keinen ominösen „Mr. Wilford“, sondern quasi eine inoffizielle „Mrs. Wilford“. Smart.
Auch wegen derart smart konstruierter und inszenierter Erzählstränge und Elemente hat der Auftakt Lust auf mehr gemacht, definitiv. Auch wenn wir noch nicht gewaltig in das Schicksal involviert sind (hätte mir lieber einen gemächlichen Einstieg gewünscht, der gewissen Elementen so auch mehr Schlagkraft verliehen hätte), so hat der schnelle Auftakt der Geschichte dazu sorgen können, dass Interesse und Neugier geweckt worden ist. Was hat es mit dem dubiosen (Doppel-)Mordfall auf sich? Welche Hintergrundgeschichten haben die Charaktere noch im Angebot? Wird die Revolution gelingen? Was gibt es noch auf dem Zug zu sehen?
Auch ist natürlich die gesellschaftliche Strahlkraft eines solch konzentrierten Experimental-Settings interessant. Es gab ja bereits etliche meist direkte und offensichtliche Bezüge, die überspitzt auch der realen heutigen Gesellschaft den Spiegel zeigt. Hier dürfte noch interessant werden, wie hoch fundamentale Werte wie Liebe, Loyalität und Moral über dem Materiellen liegen und wie schnell Prioritäten und Relationen sich ändern können.
Bei den visuellen Effekten bin ich noch etwas zwiegespalten. Im Großen und Ganzen sah das in Ordnung aus, aber einzelne Szenen kamen mir doch recht künstlich bis billig vor (vor allem das Blutspritzen oder auch die ein oder andere Außenaufnahme vom Zug). Insgesamt war das aber durchaus ein gefälliger Auftakt, der auch meine Motivation hat steigern können, den Film endlich mal zu sehen.
Bilder: TNT / Netflix
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