Mehr als eine Stunde lang habe ich gefesselt vor dem Fernseher gesessen. Eine Stunde Spannung, eine Stunde Dunkelheit, eine Stunde Ungewissheit. Und alles hält an, auch als ich den Fernseher ausmache.
Nasir ‚Naz‘ Khan ist Student, besucht Vorlesungen, hat Freunde, geht auf Parties. Er wurde in Amerika geboren und wohnt mit seinen gebürtig pakistanischen Eltern und seinem Bruder in Queens, New York. Sein Vater ist Taxifahrer. Seine Mutter arbeitet in einem Stoff- und Bekleidungsladen. Um zu einer Feier seiner Freunde zu kommen, leiht er sich heimlich das Taxi seines Vaters. Blöderweise weiß er nicht, wie man das Leuchtschild auf dem Dach ausschaltet, um zu signalisieren, dass man „off duty“ ist. So steigt also eine schöne junge, aber auch etwas merkwürdige Frau zu Naz ins Taxi, die an den episodentitelgebenden Strand will. Und den Wunsch schlägt er ihr nicht aus.
„Tonight is different … It feels different.“ – Naz
„And you have no idea why?“ – Unbekannte (Andrea)
Es ist Freitagnacht, Vollmond und so sitzen Naz und die Unbekannte nicht wirklich am Strand, aber am Fluss, trinken die Getränke, die Naz kurz vorher an einer Tankstelle besorgt hat und sprechen über ihre Väter. Die Stimmung ist leicht angespannt. Die junge Frau ist interessiert, stellt Fragen, aber ist gleichzeitig undurchschaubar. Naz weiß nicht, wie er die Situation einschätzen soll. Dann gibt sie ihm eine Pille.
Zunächst lehnt er ab, doch ihre Verletzlichkeit, ihr Wunsch nach Gesellschaft bewegen ihn letztendlich dazu, die Pille, deren Oberfläche ein kleiner Smiley ziert, zu schlucken. Vielleicht haben aber auch ihre Worte eine starke Wirkung auf ihn.
„Do you ever wish you could just transport yourself? Something bad happens here and suddenly … you’re over there? – Andrea
An diesen Satz wird Naz bald vermutlich noch ziemlich oft zurückdenken. Sie fahren zu ihr. Die Nachbarschaft scheint eine gute zu sein – zumindest eine gut betuchte. Naz und die junge Frau, die ihm ihren Namen nicht verraten will, trinken Alkohol, werden größenwahnsinnig und spielen mit einem Messer, nehmen noch mehr Drogen, küssen sich, haben Sex. Schwarzblende.
Naz wacht mit dem Kopf auf dem Küchentisch auf. Er will nach hause, es ist spät. Er holt seine Sachen und verabschiedet sich von der auf dem Bett liegenden Frau. Doch diese antwortet nicht. Was er sieht, als er das Licht anschaltet, versetzt ihn in Panik und er flieht. Durch viele blöde, aber nicht unrealistische Zufälle ist er einige Zeit später auf der Polizeistation, wo der Fall der ermordeten jungen Frau aus Manhattan diskutiert wird und er bekommt das ganze Ausmaß des Massakers zu hören – des Massakers, das er begangen hat? Alles spricht gegen ihn, alles spricht für seine Schuld. Und das merken auch die Beamten schnell.
The Night of fesselt mich, lässt mich nicht mehr los. So schnell wir am Anfang in Naz Leben, in die Stadt, in das kontinuierliche Grau der Bilder eingeführt werden, so stark wirkt nun die Entschleunigung. Was bleibt, ist die Dunkelheit.
Zu Beginn werden viele Hinweise gestreut, wann und wo wir uns befinden. Das Datum, der 24. Oktober 2014, wird eingeblendet, die Figuren sprechen über die Orte, an denen sie sich befinden und zu denen sie fahren – nichts Ungewöhnliches im Zusammenhang mit einer Taxifahrt. Doch man bekommt schon den Eindruck, dass all das irgendwann mehr als wichtig sein wird: Uhrzeit, Aufenthaltsort, Tatzeit, Tatort.
Welche Szenen fehlen in Naz Gedächtnis und wurden uns Zuschauern vorenthalten? Haben die Drogen Naz dazu gebracht, Andrea umzubringen? Hat sie ihn dazu gedrängt, wie sie ihn vorher zu den riskanten Messerspielen überredet hat? War jemand anderes in der Wohnung? Wer war die junge Frau überhaupt?
Noch bekommen wir in dieser Folge keine Antworten auf die Fragen. Was wir allerdings bekommen, ist eine grandios inszenierte Episode einer düsteren Thrillerserie, die den Zuschauer beschäftigt und ihm seine volle Konzentration abverlangt. Immer wieder haben wir eingeschränkte Sicht auf die Dinge. Nicht nur, weil uns die Geschehnisse der Nacht fehlen, die zum Tod von Andrea geführt haben. Unser Blick wird eingeschränkt durch die Perspektive der Kamera, die uns durch Autorückspiegel sehen lässt und uns die Szenerie am Tatort von der Rückbank eines Streifenwagens aus zeigt. Selbst bei Nahaufnahmen ist das Spiel mit Unschärfe ein großes, es lenkt unseren Blick und schreibt uns vor, was wir sehen dürfen und was verschwommen bleibt. Genauso eingeschränkt wird unser Hörsinn. Vieles hören wir nur „aus der Ferne“, nehmen es nicht richtig wahr, verstehen nur Bruchstücke.
Anderes wiederum hören und sehen wir viel deutlicher als normal. Zahlreiche Detailaufnahmen führen uns ganz nah an Personen und Requisiten, angefangen bereits im Intro, das uns zersplitterndes Glas, auf einer Fensterscheibe rinnende Regentropfen und Blut am Boden zeigt. Vom Stile her erinnert es sogar etwas an True Detective, Staffel 1. Bei einem Verhör nehmen wir das Ticken der Armbanduhr von Detective Box mehr als genau wahr. Diese Elemente tragen noch stärker zur Anspannung des Zuschauers und zur Spannung im Ganzen bei.
„I wanna go home.“ – Naz
Nicht zuletzt ist die Wahl der Schauspieler hier unbestreitbar gut. Riz Ahmed spielt den naiven Naz so glaubwürdig, dass man als Zuschauer nicht anders kann, als sich auf seine Seite zu schlagen – auch wenn seine Gutgläubigkeit zu manchem Kopfschütteln führt. Und dann ist da noch er, der Held, der erst nach mehr als einer Stunde Laufzeit auftaucht, doch in den wir alle Hoffnung zur Aufklärung des Falles stecken: John Torturro alias John Stone, der Anwalt mit Sandalen, der dem Jungen mit den großen Augen helfen will. Von diesem Schauspieler geht solch eine Aura aus, er kann doch nur der Retter in der Geschichte sein. Kann er?
Keine falsche Bescheidenheit, „The Beach“ bekommt von mir fast die volle Punktzahl. Was aber will uns die Serie nun erzählen? Dass wir keine Drogen (von Fremden) annehmen sollen? Dass Rassismus in Amerika und nicht nur dort ein wirklich großes Problem ist? Dass man, egal welche Hautfarbe man hat, in den falschen Gegenden unter falschen Menschen immer Ungerechtigkeit ausgesetzt ist, egal wer man ist, egal was man macht? Ständig frage ich mich, wie James Gandolfini, besser bekannt als Toni von den Sopranos, die Rolle des Anwalts John Stone wohl gespielt hätte. Dieser war nämlich vor seinem Tod für die Rolle vorgesehen, drehte sogar den Piloten und wird im Vorspann stets als ausführender Produzent angegeben. Ich habe allerdings das Gefühl, dass Stone ganz zu Torturros Rolle geworden ist. Wir werden es sehen.
The Night of trägt im Deutschen den – mal wieder unnötigen – Untertitel: Die Wahrheit einer Nacht. Ob wir diese nach den noch kommenden sieben Folgen finden werden, ist ungewiss. Dass Steven Zaillian und Richard Price mit „The Beach“ aber einen mitreißenden Auftakt einer Serie geschaffen haben, steht für mich mehr als fest.
Nun bin ich endlich zu The Night Of gekommen.
Wow. Wenn man schon zu Beginn so ein ungutes Gefühl hat und am liebsten wegschauen möchte bzw. den Protagonisten anschreien will, dass er doch bitte aufpassen soll…
Ich bin total gespannt, ob aufgelöst wird, was genau passiert ist.
Wir kennen Naz zwar noch nicht lange und nicht gut, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass er das wirklich getan hat.
Oh boy, oh boy.
Ich hoffe allerdings, dass die Serie nicht komplett im Gefängnis und im Court stattfinden wird.
Ich könnte mir echt vorstellen, dass es nicht aufgelöst wird und man mit der Entscheidung, ob man meint, dass er es jetzt wirklich war oder nicht, einfach allein gelassen wird. Hätte was. Aber wäre natürlich auch ganz schön fies. Aber das wäre auch irgendwie wieder gut, weil es einen dann nicht loslässt :)
Da geb ich dir recht! Also ich bin wiiiirklich sehr gespannt. Und es lässt mich jetzt schon nicht mehr los :D
Aber ich hab echt total mit ihm mitgelitten. Natürlich hat er im ersten Moment dumm reagiert und hat die Cops gegen sich, aber es war ganz eindeutig eine menschliche Reaktion, die mMn verständlich ist.
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