Wir erleben Momente der letzten Episode erneut. Wir hören Fetzen der Dialoge zwischen Naz und der kurze Zeit später ermordeten Andrea noch einmal, besichtigen den Tatort in extremen Nahaufnahmen, stets in einer Mischung aus klarsten Details und den unschärfsten Elementen.
Die Ermittlungen des Falls laufen. Die beiden Polizisten, die Naz in der Nacht des Mordes angehalten haben, werden befragt. Detective Box untersucht den Tatort wieder und wieder auf Hinweise, Spuren, irgendetwas, das ihm Aufschluss über den Tathergang oder ein Motiv geben könnte. Auch die Medien haben vom Fall mittlerweile Wind bekommen und versuchen an Details zu kommen, um die Öffentlichkeit an dem Mord teilhaben zu lassen. Dass es sich bei der Toten tatsächlich um Andrea Cornish handelt, bestätigt unterdessen ihr Stiefvater. In einem Gespräch mit Box erfahren wir dann auch, dass Andrea in letzter Zeit weder zur Schule ging, noch einen Job hatte, dafür aber viele Drogen nahm und ständig wechselnde männliche Bekanntschaften machte, ihren Vater als Kind und ihre Mutter vor einem Jahr an Krebs verlor.
Derweil predigt Naz‘ Anwalt John Stone (da hätte ich doch fast Jon Snow geschrieben) dem Verdächtigen in deutlichster Weise, was er zu tun bzw. zu lassen hat: Kein Wort – zu niemandem! Und vor allem nicht zu dem talentierten Box, dem subtle Beast (wobei wir wieder beim Episodentitel wären).
„Okay, you need to understand what happened here. Alright? We were at her place, we were drinking, I don’t drink. And she started giving me all kinds of …“ – Naz
„I wanna tell you something! And it’s the most important thing you’ll ever hear in your entire life! So – don’t – not – here it! Shut it!“ – John Stone
Aller Deutlichkeit zum Trotz empfindet Naz den Schachzug von Box, seine Eltern sehen und mit ihnen sprechen zu dürfen, als Freundlichkeit und Erleichterung und redet drauf los – aufgezeichnet auf Band und unter den Argusaugen von Box. Dieser ist zwar noch immer nicht ganz von Naz‘ Schuld überzeugt, weshalb er ihn auch noch immer nicht angeklagt hat, versucht Stone aber dennoch einzureden, der Fall sei viel zu groß für ihn, die Beweislast einfach erdrückend. Und das ist nicht das letzte Mal, dass Stone diese Einschätzung seiner selbst hört. Aber zunächst unternimmt er Naz gegenüber einen erneuten Versuch:
„Don’t talk to anybody!“ – John Stone zu Naz, again
Und als Naz dann sein Asthmaspray von Box bekommt, als Box ihn prüft, indem er seine Waffe griffbereit für Naz präpariert, als er das Schuldgeständnis vorbereitet, dem Naz nur noch zustimmen müsste, hat Naz es endlich begriffen: Er redet nicht mehr. Und auch sonst macht er nichts, das gegen ihn sprechen würde. Grund für Box, den Schritt der Anklage nun endlich einzuleiten, um voranzukommen.
Nächster Halt ist für Naz somit die Untersuchungshaft. Er wird mit anderen vermeintlichen Verbrechern verlegt und wo die Situation vorher schon ausweglos, aber sicher schien, herrscht plötzlich nur noch Unsicherheit, Gewalt, Willkür. Nach außen hin unterscheidet Naz sich nun keineswegs mehr von den anderen Inhaftierten. Und vor Gericht bleibt John Stone abermals und nach erfolgloser Überzeugungsarbeit, dass der in Queens geborene Naz kein Fluchtrisiko nach Pakistan mit sich bringt, nur eines zu sagen:
„Don’t talk to anybody.“ – John Stone zu Naz, again again
Auch die zweite Folge The Night of ist spannend inszeniert. Ständig kommt das Gefühl auf, dass jede Sekunde etwas passieren wird. In ungewöhnlich langen Einstellungen sehen wir Abläufe nur in der Spiegelung von Pfützen und Autoscheiben, in Überwachungsspiegeln, durch Überwachungskameras. Und auch das Spiel mit Schärfe und Unschärfe ist wieder ein großes. Die ungewöhnlichen Perspektiven der Kamera, aus anderen Räumen heraus, durch spaltoffene Türen hindurch, machen uns Zuschauer zu stillen Beobachtern der Szenerie.
Die tolle Kamerafahrt entlang eines Polizeiabsperrbandes am Tatort lässt uns durch die Beweislage rauschen. Die Aufnahmen sind so durchkomponiert, dass sie uns die schönsten Bilder geordneter Form und Farbe bescheren, die im vollkommenen Gegensatz zum inhaltlichen Durcheinander des Falles stehen.
Technisch und künstlerisch gesehen ist „Subtle Beast“ eine herausragende Episode, in der wir einem 23-jährigen jungen Mann folgen, der mit aller Kraft versucht, das Richtige zu tun und seine Unschuld zu beweisen; in der wir einem Anwalt folgen, der vielen durch diesen überaus großen Fall beweisen möchte, dass er den richtigen Beruf gewählt hat; in der wir einem Detective folgen, dem nichts klarer ist als die Unklarheit dieses Falles.
„You’re sure he did it?“ – Helen Weiss
„No question.“ – Box
„You blinked.“ – Helen Weiss
In einem Traum bildlicher Komposition sammeln wir also weiter Bilder, die wir aus dem Vorspann wiedererkennen und die uns das Unrecht und die Willkür des US-amerikanischen Justizsystems näherbringen.
Schön geschrieben!
Was mir noch positiv aufgefallen ist: Die kurze Szenenabfolge von Box, Naz‘ Eltern, John Stone etc. Kein Dialog, nur Einsamkeit bzw. Verzweiflung.
Auch der kleine Ausflug in Stones Privatleben war klasse.
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