Das, was nach der ersten Folge „We Are Who We Are“ bleibt, ist dieses Gefühl, das Regisseur Luca Guadagnino einfach zu vermitteln weiß: ein Gefühl jugendlicher Neugier, Unsicherheit, aufgeregter Entdeckungslust und Sehnsucht.
Amsterdam
Der orangene Hoodie, seine dunklen Augen, die lackierten Nägel, die blondierten zauseligen Haare, der leichte Oberlippenpflaum: In den ersten Sekunden von „We Are Who We Are“ sind wir ganz nah an Protagonist Fraser, der mit seiner Mutter und ihrer Frau am Flughafen in Venedig auf der Suche nach einem vermissten Gepäckstück ist. Während die beiden Frauen am „Lost and Found“-Schalter diskutieren, ist er gedanklich überall. Ein schöner Start in einer „neuen Welt“, wenn ausgerechnet der eigene Koffer mit den persönlichen Gegenständen es nicht schafft, dorthin mitzukommen.
Fraser ist 14 Jahre alt und wirkt wie ein pubertierender Jugendlicher: ständig Stöpsel im Ohr, rebellisch, wo es nur geht, nicht gerade sozial. Da ist die Begeisterung für den Umzug von New York ins italienische Chioggia eher begrenzt, vor allem, da das Ziel eine amerikanische Militärbasis ist. Seine Eltern Sarah und Maggie sind hier nun stationiert. Bei ihrer Ankunft in dieser kleinen Stadt für sich beziehen sie ein Haus und erledigen den ausstehenden Vertragskram, während Fraser sein Zimmer und die Gegend erkundet, sich die High School für die Kinder der Stationierten anschaut und dort die geheimnisvolle Caitlin entdeckt, wie sie in ihrer Klasse etwas vorträgt. Es scheint, als wäre er direkt fasziniert von ihr, denn er macht Fotos von ihr, heftet sich an die Fersen ihrer Clique, beobachtet sie. Was zunächst ein bisschen creepy erscheint, ist mit solch unschuldiger Neugier aufgeladen, dass man seine Sehnsucht, Anschluss zu finden, förmlich fühlen kann.
You’re mine for the day
Britney, ein Mädchen aus Caitlins Clique, das ihn bereits ins Auge gefasst hat, schnappt sich Fraser und nimmt ihn mit an den Strand, an dem auch die anderen Teenager ihre Zeit verbringen. Ein wenig abseits beobachtet er die Gruppe, die ihn anfängt zu necken, sodass er abhaut und die Gegend weiter erkundet. Er scheint ein kleines Problem mit Alkohol zu haben, denn am Flughafen durfte er schon einen Schluck Schnaps trinken, auf dem Stützpunkt musste es ein Bier sein und nun bekommt er am Wegesrand ein Tetra Pak Wein angeboten, das er sich bei größter Hitze so verinnerlicht, dass Maggie ihn schließlich aufsammeln und seine Sturzwunden versorgen muss.
Bei einer Zeremonie wird Sarah am nächsten Tag vom Colonel zum Commander befördert. Ihr Vorgänger, der ihr seinen Posten übergibt, wünscht ihr viel Glück: Im vergangenen Jahr habe es zahlreiche Straftaten und Selbstmorde auf der Basis gegeben, was ihre neuen Aufgaben zu einer echten Herausforderung macht. Danach folgt Fraser Caitlin von der Base mit dem Fahrrad zu einer kleinen Bar. Caitlin, gekleidet in eine weite Hose und ein lässiges oversize-Shirt, die langen dunklen Haare unter einem Cap versteckt, flirtet hier mit einem Mädchen und nennt sich selbst Harper. Später am Strand fragt Fraser sie schließlich:
„So what should I call you?“
Sehnsucht
Die Charaktere von „We Are Who We Are“ sind toll. Jack Dylan Grazer spielt die Figur des Fraser faszinierend unsicher, zerbrechlich, verletzlich und dabei bringt uns die Kamera immer so nah an ihn heran, dass man gar nicht anders kann, als sich ihm nahe zu fühlen, sich mit ihm zu identifizieren. Die Art und Weise, wie er ständig seine Finger bewegt und seine Augen suchend durch die Gegend wandern, vermitteln ein noch stärkeres Gefühl von Verlorenheit, der Suche nach Halt. Sein außergewöhnlicher Kleidungsstil, sein ständiges Gähnen, der schlendrige Gang und seine vermeintliche Coolness laden die Szenen regelmäßig mit etwas Humor auf.
Seine Beziehung zu seiner Mutter Sarah, tough gespielt von Chloë Sevigny, ist dabei sehr innig, fast schon etwas merkwürdig. Sie scheint nichts dagegen zu haben, Fraser ab und zu etwas harten Alkohol trinken zu lassen, es ist nicht komisch für sie, dass er ihren Finger aufgeregt und überfürsorglich in den Mund nimmt, nachdem sie sich verletzt hat. Er scheint sich sehr nach ihrer Aufmerksamkeit zu sehnen, wirkt immer wieder eifersüchtig auf ihre Frau Maggie, aufmerksam und feinfühlig verkörpert von Alice Braga, was seine Unsicherheit noch weiter verstärkt. Und dann wäre da noch die geheimnisvolle und stille Caitlin, die von der jungen Jordan Kristine Seamón gespielt wird, von der wir in dieser ersten Episode nur wenig mitbekommen, doch die im weiteren Verlauf noch eine große Rolle spielen wird.
Wer den wundervollen Film „Call Me By Your Name“ von Luca Guadagnino gesehen hat, erkennt bereits in der ersten Episode einige Parallelen zur Serie „We Are Who We Are“ – und das ist auch gut so. Die Nähe zu den Charakteren, das italienische Setting, das Fahrradfahren, die Hitze, das Beobachten, die Veränderung, das Finden seiner und ihrer Selbst, die Suche nach den Personen, die dir Halt geben. Wie der Film scheint auch „We Are Who We Are“ eine intime Reise zu werden. Mir hat die erste Episode des Coming of Age-Dramas sehr gut gefallen und ich freu mich auf mehr. Denn in Guadagninos Welt einzutauchen, ist zwar immer mit sehnsüchtiger Schwere, doch gleichzeitig auch mit einer aufregenden Leichtigkeit verbunden.
In den USA ist „We Are Who We Are“ bereits Mitte September auf HBO Max gestartet. Nun kommt die acht Episoden umfassende Serie endlich auch zu uns nach Deutschland. Ab dem 7. März wird die Serie auf Starzplay zu sehen sein, dem Pay-TV-Kanal, den man unter anderem über die Amazon Prime Video Channels hinzubuchen kann.
Bilder: Yannis Drakoulidis
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