Lange habe ich überlegt, welche Serie ich mir für unsere Rewatch-Rubrik aussuche. Relativ schnell bin ich auf die Idee gekommen, mir noch einmal „Lost“ anzuschauen. Die Serie hat mich damals – wie viele andere auch – in ihren Bann gezogen. Auch wenn das Ende nicht mit der Qualität der ersten Staffeln mithalten konnte, hatte ich mir schon länger vorgenommen, mich noch einmal der Serie zu widmen. Funktioniert die Spannung auch noch Jahre später? War die Serie vielleicht im Kontext großer Streaming-Serien der letzten Jahre gar nicht so gut, wie man sie in Erinnerung hat? Vor diesem Hintergrund habe ich mir die Doppelfolge zum Start der Serie noch einmal angeschaut:
Die ersten Szenen waren damals beeindruckend und wurden häufig zitiert: Mystische Musik, graue dreidimensionale Schrift, die für ein paar Sekunden durch das Bild fliegt, gefolgt von einem geschlossenen Auge. Das Auge öffnet sich, Jack atmet hastig und muss sich erst einmal orientieren. Er steht auf, findet eine kleine Schnapsflasche in seinem zerfledderten Anzug und läuft dann durch einen Bambuswald. Wir sehen einen Labrador, aber es ist keine Zeit, sich zu fragen, was der Hund dort macht. Angekommen am Strand sieht man aus seiner Sicht einen ruhigen, idyllischen Strand – er dreht sich und dann eröffnet sich eine Szenerie, in der Chaos und Verzweiflung herrscht. Wow! Wir schreiben das Jahr 2022, 18 Jahre nach der Erstausstrahlung des Piloten und die ersten Minuten funktionieren nach wie vor so wie intendiert. Und es geht weiter, fast 8 Minuten dauert das adrenalingeladene Intro. Man bekommt keine Pause, Jack stolpert von einem Notfall zu einem anderen. Leben und Tod liegen nebeneinander. Erst rettet er mit Hilfe anderer Überlebenden einen Mann, der unterhalb einer noch laufenden Turbine eingeklemmt ist, nur damit kurz danach ein weiterer Überlebender von der Turbine eingesaugt wird und eine heftige Explosion die Unfallsstelle erschüttert. Und so geht es weiter, bis am Ende ein Flügel des Wracks, der nach oben in die Luft absteht, abbricht und damit eine zweite Explosion auslöst. Die CGI der Explosionen sind zwar nicht mehr ganz auf der Höhe, aber die Dramatik und Spannung fühle ich auch heute noch. Was das ganze so beeindruckend macht, ist die Szenerie. Das Wetter könnte nicht schöner sein und der Strand lädt zu einer Pina Colada ein oder Bounty oder sonstige Produkte, die man aus der schönen Werbewelt kennt. Und dann liegen da die Leichen, das zerfetzte Flugzeug und der blanke Horror in den Gesichtern der Überlebenden. Erst als Jack sich absondert, um sich um seine Wunde zu kümmern, wird die Geschwindigkeit aus der Folge genommen. Er lernt Kate kennen und von dort an fängt die Geschichte an.
In meiner Erinnerung war jede Folge geprägt von langen Märschen über die Insel und ja, das fängt auch hier schon an. Jack will das Cockpit suchen und um Hilfe funken und Kate hat Rauch gesehen – die erste Mission steht also.
Bevor die beiden aufbrechen, sehen wir noch mehr von den Hauptcharakteren. Damals hat man sich nicht viel dabei gedacht, dass ein Locke ruhig im Sand sitzt beispielsweise. Keiner wusste, was aus ihm wird. Und deswegen macht mir dieser Rewatch auch sehr viel Spaß. Zum ersten Mal seit Jahren Sawyer zu sehen, oder Hurley, Sayid und so weiter. Großartig! Und interessanterweise ist die Serie offenbar noch so „jung“, dass die Mode nicht störend auffällt. Einzig das alte Handy von Shannon erinnert einen daran, dass die Serie weit vor dem ersten iPhone gedreht wurde.
Und was mir auch nicht mehr so bewusst war, die mystischen Elemente fangen auch sehr früh an. Die Überlebenden hören Getöse und sehen wackelnde Bäume. Es ist klar, sie sind nicht allein. Dass sich danach Kate, Jack und Charlie einfach so in den Wald aufmachen ohne Angst? Andererseits wollen sie weg von der Insel. Es ist wohl dem Dasein als klassische Network TV-Serie geschuldet, dass man sich damals nicht mehr Zeit genommen hat, die Ängste und das Erleben der komischen Ereignisse verarbeiten zu lassen.
Dass Kate, Jack und Charlie dann auch direkt das Cockpit bzw. den vorderen Teil des Flugzeugs finden, auch nicht ganz logisch, aber dafür hat diese erste Folge auch keine Längen. Im Cockpit lebt ein Pilot sogar noch und wird dann von irgendetwas geschnappt und getötet. Diese Szene war mir gar nicht mehr bewusst. Und auch etwas seltsam, dass die drei nach der Rückkehr nichts davon erzählen. Alle sind halt einfach ultracool auf dieser Insel und Jack von Minute 0 an der geborene Anführer. Aber das stört nicht, vielmehr legt die Serie schnell den Schalter um und man möchte wissen, wie es weitergeht. Im Prinzip ist die Serie eine Art Labyrinth, man möchte weiter gehen und um die nächsten Ecke steckt schauen – da wiegen kleinere Schwächen bei der Erzählung nicht schwer.
In der zweiten Folge des Piloten geht es dann darum, dass das geborgene Funkgerät aus dem Cockpit eingesetzt werden muss. Rund um diese Story und auch schon in der ersten Folge sehen wir immer wieder Rückblenden aus dem Flugzeug. Und erst da fällt mir auf – damals habe ich das gar nicht gemerkt – dass die Kamera auf der Insel häufig wackelnd die Rennerei im Dschungel darstellt, während in den Rückblenden alles ruhig und entspannt ist, zumindest bis zum Absturz. Es ist sehr subtil, aber entfaltet eine unterbewusste Wirkung, damit man klar zwischen den Ebenen trennen kann.
Insgesamt nimmt sich der Pilot Zeit, einige der Hintergrundgeschichten der Charaktere offen zu legen. Wir sehen, dass Charlie drogensüchtig ist oder dass Kate eigentlich eine Gefangene war. In Gesprächen hören wir von Sayid, dass er Iraker ist. Für das Jahr 2004 durchaus spannend, Sawyer artikuliert dieses Misstrauen der Gesellschaft, indem er Sayid als Terrorist bezichtigt. Locke darf zumindest zeigen, dass er ein besonderer Charakter sein wird. Wir erfahren, dass es zwischen Walt und Michael nicht so gut läuft. Der Konflikt zwischen Boone und Shannon oder Jin-Soo, der seiner Frau gar nichts erlaubt. Und das alles wirkt nicht überfrachtet. Ohne die anderen Folgen zu kennen, hätte es auch so sein können, dass es für viele Charaktere gar nicht weiter geht. Das gefällt mir an dem Piloten so sehr. Es werden viele Grundsteine für spätere Geschichten gelegt, ohne zu übertreiben.
Das Beste ist eigentlich der Schluss. Das Funkgerät empfängt tatsächlich etwas, aber nur eine alte SOS Nachricht, die 16 alt ist (Sayid rechnet das mal eben aus – ein echt krasser Kopfrechner!). Und damit pitcht der Pilot genau das, was wir dann in 5 Folgen geboten bekommen. Kleinere Etappen werden gemeistert, die aber nie das Große und Ganze auflösen, sondern nur neue Fragen aufwerfen und neue Konflikte. Einfach, aber genial.
Fazit
Für mich hat der Pilot nichts an Kraft verloren. Ja, es gibt manche logische Schwächen, aber der Weg ist nun einmal das Ziel der Serie. Und das verkauft der Pilot hervorragend. Auch im Jahr 2022 würde meiner Meinung nach „Lost“ funktionieren. Und ich finde auch die schnelle Erzählweise sehr erfrischend. Viele Streaming Serien hätten wahrscheinlich in einer ganzen Staffel weniger Handlung bekommen als in der „Lost“ Doppelfolge zum Start der Serie.
Also, wer bis heute „Lost“ noch nicht geschaut hat: Gebt der Serie eine Chance. Der Pilot ist nach wie vor super und dementsprechend wird auch der Rest noch funktionieren. So, jetzt muss ich aber Schluss machen. Ich will eine weitere Folge sehen ;-)
Ganz vergessen zu erwähnen: Das Titelbild mit Locke und der Orange im Mund, ja, passiert tatsächlich und ist nicht editiert!
Alternativer Titel des Beitrags:
„Ein Rewatch-Review-Artikel, der die Leser auch tatsächlich zum Re/watch animiert.“
Als nächstes bitte „24“ oder „Rome“… ;)
Danke für den Tipp: 24 notiere ich mir. Da interessiert es mich (wie bei Lost), ob sich das auch heute noch so anfühlt :-)
Wenn da nicht diese Bruchlandung Namens 6.staffel gewesen wäre. Über vieles konnte ich hinwegsehen, immer mit dem Hintergedanken „sie wissen wo sie hin wollen, am Ende wird alles Sinn ergeben“. Und den Zuschauer dann so zurücklassen ohne tatsächlich jemals tief in die Hintergründe der Mysterien einzusteigen war unglaublich enttäuschend und frustrierend. Teilweise wurden ganze plot Punkte vollkommen fallen gelassen die in jeder anderen Serie wahrscheinlich die gesamte Geschichte hätten tragen können.
Ich hab die Erinnerung an diese Staffel tatsächlich weitesgehend verdrängt… aber ja, sie haben es nicht gut beendet. Das ist eben das Problem mit Mystery; man schau es ja wegen den Fragen und dem Unheimlichen, wenn das aufgelöst wird, dann ist es kein Mystery mehr.
Meiner Meinung nach hat es aber eine Mystery-Serie geschafft und das war Fringe, da war ich mit dem Ende sehr zufrieden.
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