Irvine Welsh… Moment, das sagt mir irgendwas… ach ja, „Trainspotting“, klar. Ein verstörender Film Mitte der 90er Jahre, heute definitiv ein Klassiker. Die Story dreht sich um „Rent Boy“, gespielt von Ewan McGregor, und ist in der Drogen-Szene von Edinburgh etabliert. Drogen und Edinburgh sind auch die Verbindung zur Serie „CRIME“ – und natürlich, dass wie bei „Trainspotting“ auch hier Irvine Welsh der Autor ist. Wie der Film basiert auch diese Serie auf einem Roman von Welsh – wobei Welsh hier eine ganz besondere Herangehensweise an die Umsetzung wählt, dazu aber später mehr. Ansonsten fühlt sich „CRIME“ stellenweise genau so dreckig, frech und laut an wie „Trainspotting“ – weitere Vergleiche zwischen beiden Titeln muss man aber nun wirklich nicht bemühen, weil die Serie hervorragend für sich selbst funktioniert. Und das liegt nicht nur an Welsh, sondern auch an Dougray Scott, der die Hauptfigur DI Ray Lennox spielt.
Sechs Folgen, jeweils etwa 50 Minuten lang, hat die 1. Staffel von „CRIME“, die aktuell bei MagentaTV+ verfügbar ist. Lennox ist ein Alkoholiker, aktuell trocken, aber ständig in die Versuchung kommend, rückfällig zu werden. Auch anderen Drogen ist er nicht abgeneigt, doch zu Beginn wirkt er einigermaßen aufgeräumt und clean. Das ändert sich, als er einen neuen Fall zugewiesen bekommt – das Verschwinden einer Schülerin auf dem Schulweg irgendwo in Edinburgh. Noch bevor man sich als Zuschauer:in in der Welt von „CRIME“ einrichten kann und glaubt, in den sechs Folgen eine Spurensuche zu der verschwundenen Britney Hamil samt Ergreifung des Täters irgendwo im Staffelfinale serviert zu bekommen, löst sich dieses Gebilde direkt am Ende von Folge 1 auf – übrigens außerordentlich gut inszeniert, und stark fortgesetzt in Folge 2. Ab jetzt geht’s natürlich darum, den Täter zu finden – aber je näher Lennox dem Täter kommt, umso mehr erfolgt sein persönlicher Niedergang. Er steht extrem unter Druck, nimmt den Fall sehr persönlich, zusätzlich setzen ihm Umstände in seinem privaten Umfeld und im Kolleg:innen-Kreis zu.
Irvine Welsh, Edinburgh, Drogen-Mileu: die Welt von „Trainspotting“ – und von „CRIME“
Zweimal, dreimal gerät er in Sachen Drogen in Versuchung, und irgendwann überschreitet er die Schwelle, begleitet von den typischen Ausflüchten und Kommentaren. Er trinkt wieder, ein bisschen, dann ein bisschen mehr, nimmt andere Drogen dazu und steigert sich immer weiter hinein – in die Sucht nach Alkohol und Kokain, aber auch in die Aufklärung seines Falls. Lennox leidet – er ist der harte Ermittler, erfühlt aber auch intensiv mit. Er weint, er sackt zusammen, er wird emotional, er wird wütend. Lennox dabei zuzuschauen, ist manchmal schwer zu ertragen, zumal das alles ausgezeichnet gespielt ist von Dougray Scott, der vollkommen zurecht dafür einen International Emmy Award bekommen hat. Scott wollte diese Rolle unbedingt, als er Welshs Roman gelesen hat, und jetzt hat er die großartige Momenten in der 1. Staffel – wenn er Britneys Mutter die Nachricht überbringen muss (übrigens stark inszeniert von James Strong, der das Gespräch zwischen der Mutter und Lennox sowie dessen Ankunft – oder ist es der Rückweg? – zeitlich diskontinuierlich laufen lässt), wenn er dem vermeintlichen Täter gegenübertritt, oder wenn er sich an Momente aus seiner Kindheit zurückerinnert, die er lieber im Dunkeln halten würde.
Irvine Welsh verknüpft Lennox‘ Antrieb zur Lösung des Falls geschickt mit den persönlichen Kindheitserinnerungen des Ermittlers – ein Sachverhalt, der sich uns Zuschauer:innen erst viel später offenbart. Dazu kreiert Welsh einige Nebenhandlungen, bei denen mir nicht ganz klar ist, warum genau sie etabliert wurden. Sie hängen nicht ursächlich mit dem Fall zusammen und wirken hier und da etwas bemüht, bringen aber auch den einen oder anderen Schockmoment mit ins Spiel. Es geht um Familie, um Treue, um sexuelle Belästigung, Machtmissbrauch und Moral, und es zeigt immerhin auch auf, warum sich manche Charaktere so verhalten, wie sie sich verhalten. Regisseur David Blair, der die zweite Hälfte der Staffel inszeniert hat, nutzt dafür schnell geschnittene Collagen, wechselt in kurzen Momenten zwischen verschiedenen Szenerien und Ereignissen, was sich mitunter großartig zu einem Gesamtbild zusammenfügt; zum Beispiel die Ergreifung des Täters des parallelen Mordfalls, die zusammengeschnitten wird mit einem Bordellbesuch des eigentlich zuständigen Ermittlers DI Dougie Gillman, toll gespielt von Jamie Sives (kennen wir aus „Annika“).
Im Laufe der Staffel verschiebt sich der Fokus von der eigentlichen Ermittlungsarbeit und dem Weg zur Lösung des Falls immer mehr hin zu diesen besonderen Eigenarten, Wesenszügen und Charakteristika der handelnden Figuren. Welsh legt viel wert auf eine detailgetreues Porträtieren der Charaktere, jede Nuance scheint wichtig und genau durchdacht. Das macht „CRIME“ so besonders, weil auch der Cast diesen Ansatz verstanden zu haben scheint und sich darauf eingelassen hat. Ales greift ineinander, die Staffel bekommt eine ganz eigene, unerwartete Dynamik, alles wird laufend düsterer und strebt auf eine Katastrophe zu. Man merkt irgendwann – hier geht nichts gut aus, und das ist schon bald gar nicht mehr abhängig vom Ausgang des eigentlichen Falls.
Wer jetzt die Romanvorlage kennt, wird sich fragen, was ich denn da jetzt genau beschreibe. Klar, die Hauptfigur ist bekannt, aber dieses Verschwinden des Mädchens, die Nebenhandlungen, das alles kennt man als Leser:in des Romans allenfalls aus Erinnerungssplittern von Ray Lennox. Und genau das ist das Besondere an dieser Adaption: Irvine Welsh hat die Haupthandlung seines Romans links liegen gelassen. Die spielt in Florida – und für die 1. Staffel dieser Serie überhaupt keine Rolle. Es geht vielmehr um die bruchstückhafte Erinnerung Lennox‘ an Edinburgh, um die Rückblenden in dem Roman, in denen Lennox‘ Rückfall in den Drogenkonsum thematisiert werden – und der Kriminalfall, der ihn in diesen Gefühlszustand getrieben hat. Welsh hat für diese Serie sie Splitter aufgesammelt und zu einem neuen Gesamtbild zusammengesetzt – und daraus eine ungewöhnliche, raue, herausfordernde Serie geschaffen. Eine weitere Crime-Serie nach üblichem Muster? Definitiv nicht, nein.
Bilder: Britbox
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