Freitag Nachmittag hat sich mal wieder ein Klassiker der heutigen Gegebenheiten in der online-orientierten (Clickbait-)Medienwelt abgespielt. Die Botschaft: „Amazon Prime Video droht die Abschaltung“. Warum? Hat das Landgericht Düsseldorf höchstrichterlich entschieden. Und dann noch bei einem Patentstreit. Aus dem eine alte, aber immer noch bekannte Marke wie Nokia als Sieger hervorging. Dann muss das ja stimmen. Gegenrecherche, Fakteneinordnung, Originalquellen-Recherche? Heutzutage offensichtlich alles überbewertet. Schließlich hätte sich die Geschichte dann ziemlich schnell in Luft aufgelöst.
Nokia gegen Amazon Prime Video vor Gericht – worum geht’s im Patentstreit?
Patentstreitigkeiten sind immer wieder beliebt vor Gericht. Worum geht’s? Nokia hat eine Unterlassungsverfügung gegen den Streamingdienst erstritten. Genauer gesagt das Tochterunternehmen Alcatel-Lucent. Das Landgericht Düsseldorf stellte fest, dass Amazon in einem bestimmten Verfahren ein Streaming-Patent der Nokia-Tochter verletzt. Nokia könnte eine nötige Kaution hinterlegen, so dass Amazon seinen Streamingdienst hierzulande abschalten müsste. Das reichte den meisten Medien schon für den Aufschrei am Freitag Nachmittag. Dass es sich um ein kaum relevantes Detail im Betrieb von Amazon Prime Video handelt, und dass Amazon dieses Detail auch ohne große Auswirkungen auf das eigentliche Streamingangebot abschalte könnte – lieber nicht weiter berücksichtigen, würde der eigentlichen Skandal-Meldung eher schaden.
Die Meldung ausgegraben hat Plattform IP Fray, eine Plattform von Florian Müller, der fortan im Zuge der Berichterstattung in den Medien als Patentexperte gehandelt wird. Zum konkreten Fall Az. 4c O 49/23 führt IP Fray aus, dass das Streitpatent ein Implementierungsverfahren zur Bereitstellung eines Multimediadienstes von einem Kommunikationsgerät durch einen Server an ein Wiedergabegerät umfasst – zum Beispiel an einen Fernseher also. Dies sei wohl nicht an einen bestimmten Standard gebunden zu sein und umfasse Streaming-Funktionen wie die Casting-Funktionalität von Amazon Prime Video.
Clickbait statt Recherche – ein Paradebeispiel anno 2025
Die WirtschaftsWoche griff die Geschichte relativ schnell auf, und hatte direkt ein Zitat von Nokia parat, das ein Sprecher „gegenüber der WirtschaftsWoche“ kommentiert: „Wir begrüßen die Entscheidung und hoffen, dass Amazon seiner Verpflichtung nachkommt und einer Lizenz zu fairen Bedingungen zustimmt.“ Im Artikel darf Florian Müller die Entscheidung noch ein wenig im internationalen Kontext einordnen, ehe man dazu übergeht, einige andere Rechtsstreitigkeiten aufzuzählen, in denen Amazon auch schon verloren hat, beim Fire TV Stick zum Beispiel. Ein Check bei Amazon Prime Video? Erstmal Fehlanzeige. Erst heute Mittag um 12:18 Uhr folgte eine Aktualisierung des Artikels, jetzt endlich mit einem Amazon-Zitat. Ein Sprecher von Amazon sagte, dass Prime Video sich an die Bestimmungen dieses Urteils halten werde und Amazon derzeit die nächsten Schritte prüfe: „Es besteht jedoch absolut keine Gefahr, dass Kunden den Zugang zu Prime Video verlieren.“ Damit ist der Geschichte natürlich ein Großteil der Brisanz entzogen – was allerdings nicht dazu geführt hat, auch die Überschrift des Beitrages zu ändern. Da heißt es weiter: „Nokia darf Amazon Prime Video den Stecker ziehen“.
Die anderen großen Online-Medien zogen im Laufe des Nachmittags schnell nach.
ZEIT Online um 17:26 Uhr: „Amazon Prime Video droht nach Patentstreit Abschaltung in Deutschland“, mit Verweis auf die WirtschaftsWoche als Quelle.
heise hat vergleichsweise sachlich um 17:40 Uhr berichtet („Nokia gewinnt Patentstreit gegen Amazon: Prime Video könnte abgeschaltet werden“), aktualisierte aber bereits um 19:16 Uhr um das Amazon-Zitat und passte die Überschrift an: „Nokia-Patentstreit: Laut Amazon keine Gefahr für Prime Video“.
Tagesspiegel um 19:39 Uhr: „Gerichtsstreit mit Nokia-Tochter: Amazon Prime Video droht nach Urteil Abschaltung in Deutschland“, ebenfalls mit Verweis auf die WirtschaftsWoche und IP Fray.
Berliner Zeitung um 19:55 Uhr: „Amazon Prime Video droht jetzt das Aus in Deutschland: Nokia gewinnt Patentstreit“ – hier stützt man sich ebenfalls auf die WirtschaftsWoche.
Und BILD noch um 20:58 Uh: „Nach Urteil: Amazon Prime Video droht Abschaltung in Deutschland“
Die Liste lässt sich locker erweitern um gleichlautende Verweis-auf-Wirtschaftswoche-Amazon-droht-Abschaltung-Artikel, kurze Google-Suche mit ‚amazon prime nokia‘ genügt. Recht kurios ist es bei n-tv:
n-tv um 17:21 Uhr: „Streamingfeature verletzt Patent – Nokia gewinnt Rechtsstreit gegen Amazon Prime Video“ – diese Meldung ist inzwischen korrigiert und um den Hinweis ergänzt: „Korrektur: In einer vorherigen Version der Meldung hieß es, Amazon Prime Video drohe die Abschaltung. Dies ist nicht korrekt. Wir bitten, das Missverständnis zu entschuldigen.“ – Bezug genommen wird in der Meldung jetzt auf DWDL – das Medienmagazin hatte gestern um 19:34 Uhr über den Fall berichtet und bereits eine erste Einordnung der Medienberichterstattung übernommen. n-tv führt in der korrigierten Fassung jetzt DWDL als eine der Quellen an: „Dem Medienmagazin DWDL zufolge darf Amazon Inhalte seiner Prime-App nicht wie bisher auf andere Endgeräte übertragen.“ Ganz korrekt ist dieser Einschub nicht, denn bei DWDL heißt es vielmehr: „Konkreter Streitpunkt zwischen Alcatel-Lucent und Amazon ist die Funktion mit der sich Inhalte aus der Prime Video-App auf andere Endgeräte „casten“ lassen. Dieses Feature verletzt laut heutigem Urteil des Landgerichts Düsseldorf ein Patent der Nokia-Tochter.“
DWDL hat als einziges Medium die Nachricht eingeordnet – was das Urteil bedeutet, um welches technische Thema es geht, wie Amazon reagiert, und ebenso sehr schön, was die meisten Medien daraus gemacht haben. Sicher ein Paradebeispiel für die heutigen Arbeitsweisen im onlinedominierten Nachrichten-Journalismus, wo eine schnelle, klickfähige Überschrift mehr zählt als eine sorgfältige, ausgewogene Recherche. Klar ist doch: Natürlich wird Amazon Prime Video nicht abgeschaltet, sondern es handelt sich nur um ein bestimmtes Detail, auf das der Streamingdienst problemlos reagieren kann. Eben einfach so, wie es der Amazon-Sprecher auch unaufgeregt mitteilt. Nur: unaufgeregt klickt nicht. Und DAS ist perfekt für unsere Aufreger-Rubrik. ;-)
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